Nahaufnahme von Ellen Burstyn
Ellen Burstyn mit David Gordon Green am Set von »Der Exorzist: Bekenntnis« (2023). © Universal Studios
Oscar, Emmy, Tony Award: Bei Preisverleihungen war Ellen Burstyn stets gut vertreten. Wie vielseitig sie unterwegs ist, wird trotzdem erst auf den zweiten Blick deutlich. Ihre aktuellen Filme profitieren von der Schauspiel- und Lebenserfahrung, die sie mitbringt
Um sie ranken sich nur wenige Anekdoten – diese Schauspielerin war schon immer zu sehr Tatsache, um Spekulationen zu ermutigen. Aber es gibt eine Anekdote, die ganz wunderbar ist. Sie spielt Mitte der 1970er Jahre am Broadway und handelt von ihrer Begegnung mit Alain Resnais.
Eines Abends suchte der französische Regisseur sie nach einer Vorstellung in ihrer Garderobe auf. Er wollte ihr zu ihrer Leistung gratulieren, hatte insgeheim aber noch ein anderes Anliegen. Er bewunderte Ellen Burstyn, seit er sie in »Die letzte Vorstellung« und »Der Exorzist« gesehen hatte. Ihrem Agenten hatte er bereits mehrere Drehbücher geschickt, aber immer nur Absagen erhalten. Nun nahm Resnais all seinen Mut zusammen und fragte: »Madame, warum bloß wollen Sie nicht mit mir arbeiten?« Burstyn fiel aus allen Wolken: Sie hatte nie von den Rollenangeboten erfahren. »Glauben Sie mir, Monsieur Resnais«, erwiderte sie, »ich würde jeden Film mit Ihnen machen.«
Über das weitere Schicksal ihres pflichtvergessenen Agenten ist nichts bekannt, aber Burstyn trat 1977 tatsächlich in Alain Resnais' nächstem Film »Providence« auf. Darin bewegt sie sich auf unbekanntem Terrain, erscheint ungewohnt glamourös (ihre Kostüme entwarf Yves Saint Laurent), selbst ihre Wutausbrüche wirken exquisit. Sie hat spürbares Vergnügen an der Scharade der erzählerischen Möglichkeiten, hat ungeheure Lust, Szenen in verschiedenen Varianten durchzuspielen; sie genießt Resnais' Neugier, seine Figuren in je anderem Licht zu betrachten. Providence blieb Ellen Burstyns bisher einziger Ausflug ins europäische Autorenkino, aber er verrät ihre unbedingte Bereitschaft, sich in ihrem Beruf unverhofften Erfahrungen auszusetzen. Bei Resnais erlebte sie etwas, das sie sich von allen Regisseuren erhofft, aber eher selten erhält: Sie will als Schauspielerin gesehen werden, will erkannt werden nicht nur im Offensichtlichen, sondern in ihrem verborgenen Potenzial. Der Franzose wusste genau, weshalb er sie in seinem »Dokumentarfilm über die Imagination« besetzte. Er brauchte eine Darstellerin, die geerdet wirkt.
In ihren damaligen US-Filmen hatte man sie nie glamourös gesehen; nicht einmal in der Rolle des Filmstars, den sie in »Der Exorzist« spielt. Da steht sie mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen, bügelt selbst und verzichtet auf die Studiolimousine, weil sie lieber zu Fuß heimkehrt vom Dreh. Ihre Domäne in den Filmen der frühen 1970er ist der Alltag. Oft genug sieht man sie, wie sie Lockenwickler trägt oder sich die Beine rasiert. Burstyns Charaktere müssen sich rüsten; ihre Filme handeln von dem Druck, eine glückliche Amerikanerin zu sein. Ihre Ehefrauen zahlen den Preis der Domestizierung, finden ständig Entschuldigungen für das Verhalten ihrer Männer. Wenn ihre Charaktere sich aus der Unterwürfigkeit gelöst haben, sind das ungewisse Befreiungsgesten. Eine nicht allein anerzogene, sondern dressierte Fröhlichkeit bleibt an ihnen haften. Ihre glorreichsten Zeiten haben sie hinter sich, vielleicht waren sie einmal Schönheitsköniginnen, aber nun gilt es, die Fassade der Jugendlichkeit und Zuversicht aufrechtzuerhalten, um bestehen zu können in den Wechselfällen des amerikanischen Traumlebens. In »Der König von Marvin Gardens«, einem manisch-depressiven Vorläufer von »American Hustle«, beginnt Burstyns Figur 1972, das System der Illusion zu durchschauen, schneidet sich die Haare ab, um alles Puppenhafte aus ihrer Erscheinung zu tilgen. In »Requiem for a Dream« von 2000 wiederum fügt sie sich als Mutter eines Dealers in die Rituale der Fröhlichkeit, um in einer schauspielerischen und inszenatorischen Tour de Force schließlich allen Realitätssinn an die Tablettensucht zu verlieren.
Allerdings ist diese Schauspielerin vor der Kamera auch zu wackerer Freude und wissender Melancholie fähig; in ihr steckt auch eine Komödiantin. Seit fünf Jahrzehnten schaut man ihr beim Hinzulernen und Reifen zu; nicht von ungefähr hat sie ihre Memoiren »Lessons in Becoming Myself« genannt. Seit sie 1955 erstmals vor einer Fernsehkamera und zwei Jahre später zum ersten Mal am Broadway auftrat, war sie nie arbeitslos. Die IMDb listet unter ihrem Namen derzeit 160 Film- und Fernsehrollen auf, darunter auch längerfristige Engagements in Serien wie »House of Cards« und »Law and Order: SVU«, kurzzeitig hatte sie auch eine eigene Sitcom. Dem Theater ist sie dabei nie lange untreu geblieben. Diese working actress beweist nicht nur unermüdliche Schaffenskraft, sondern auch ein bewundernswertes Arbeitsethos. Zeitweilig hat sie bei Lee Strasberg studiert und fungierte seither mehrfach als Leiterin des »ActorsStudio«. Mithin ist sie eine stolze Vertreterin (sowie Fürsprecherin) des »Method Acting« macht aber keine Anstalten, ihre Technik so demonstrativ herauszustellen, wie es viele ihrer männlichen Kollegen tun. Das Schauspiel ist ihr heilig, als Arbeit und Prozess, sie verteidigt es auch in minderen Filmen. Während der Galeerenjahre, die sie mit kurzen Auftritten in unzähligen TV-Serien zubrachte, war sie vermutlich nie schlecht (selbst inmitten der Absurditäten der Krakatau-Episode von »Time Tunnel« bleibt sie eine ernsthafte Darstellerin). Kaum eine andere Schauspielerin wurde so häufig wie sie für Oscars, Tonys und Emmys nominiert und mit diesen Preisen ausgezeichnet.
Es war kein Nachteil, dass sie ihren Durchbruch im Kino erst als Frau von 40 Jahren erlebte. Sie brachte eine enorme Portion Lebenserfahrung mit, hatte als Kellnerin, Fotomodell, Ladenangestellte und Tänzerin gearbeitet. Von dieser bewegten Biografie konnte sie am stärksten in ihrer oscargekrönten Rolle in »Alice lebt hier nicht mehr« profitieren, insbesondere von der dritten Ehe mit einem bipolaren Mann, dessen Gewaltausbrüche sie womöglich für die Begegnung mit dem unberechenbaren Harvey Keitel vorbereiteten. Ursprünglich sollte sie selbst Regie bei dem tragikomischen Roadmovie führen, wählte dann aber Martin Scorsese aus: ein Regisseur, der sie »sah« – wobei umgekehrt auch ein Schuh daraus wird. 1975 schrieb sie sich in eine Regieklasse des American Film Institute ein; seit einigen Jahren kündigt sie beharrlich ihr spätes Regiedebüt an.
Von unerfüllten Lebensträumen handeln auch viele ihrer Rollen. Aufgeben wollen ihre Figuren sie mitnichten. Ihre Hoffnungen mögen lädiert sein, aber am amerikanischen Versprechen auf einen zweiten Akt halten sie fest. Seit den 70er Jahren verkörpert sie meist alleinerziehende Mütter, die den Abstand zu ihren Kindern möglichst gering halten wollen. Sie gibt sich als deren Kameradin (etwa in »Der Exorzist«) oder Komplizin. In »Alice lebt hier nicht mehr« versteht sie sich prächtig mit ihrem altklugen Sohn (»Life is short.« – »So are you!«), ihre Dialoge sind ein dynamisches Sparring. Mitunter werden die Töchter zu erotischen Rivalinnen ihrer Figuren. In »Die letzte Vorstellung« lässt sie das geschehen, schon aus einer gewissen Gleichgültigkeit heraus. In ihrem ersten großen Leinwandauftritt zieht Burstyn gleich alle Register, die ihr zu Gebote stehen: als gelangweilte, abgeklärte Ehefrau, die des texanischen Provinzlebens inklusive ihres gelegentlichen Geliebten überdrüssig ist und zugleich provozierend und schlagfertig gegen ihre Existenz rebelliert. Die Szene, in der sie sich mit dem jungen Timothy Bottoms ausspricht über Liebe, Verantwortung und verschlissene Hoffnungen, ist die schillerndste, die Burstyn je spielte. In wenigen Augenblicken entsteht ein spontanes, tiefes Verständnis zwischen zwei Figuren, die eigentlich nichts verbinden müsste.
Burstyns Gabe, die Erfahrungen ihrer Charaktere an Jüngere weiterzugeben, hat ihr seither etliche Rollen als Mentorin in Generationenporträts wie »Ein amerikanischer Quilt« eingebracht. Sie legt große, belastbare Wärme in diese Gesten der Überlieferung: eine Gewährsfrau der Lebenslektionen. Dabei kann sie auch wehrhaft sein. In »Der Exorzist: Bekenntnis« wird ihre Erfahrung nach 50 Jahren gebraucht. Damals musste sie erkennen, dass man ihrer besessenen Tochter weder mit mütterlicher Fürsorge noch der Expertise von Neurologen, Psychiatern oder Hypnotiseuren helfen konnte. Nun ist sie gewappnet. Furchtlos tritt sie im Trailer dem Dämon erneut gegenüber, und wenn sie nüchtern »We've met before« zu ihm sagt, wird klar, dass er kein leichtes Spiel mit dieser Veteranin haben wird.
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