Lynne Ramsay: Chronistin der verlorenen Unschuld
»Lynne Ramsay«
Lynne Ramsay gilt als eine der talentiertesten Regisseurinnen der Gegenwart, aber ihre noch kurze Filmografie ist unter anderem ein Beleg dafür, dass es Frauen noch immer schwerer haben, ihre Filme realisiert und finanziert zu bekommen
Wenn in der aktuellen Debatte um Gleichberechtigung im Filmgeschäft die Sprache auf die erschreckend geringe Anzahl erfolgreicher Regisseurinnen kommt, taucht als leuchtendes Beispiel immer wieder ein Name auf: Lynne Ramsay. Die Filme der schottischen Regisseurin mögen zwar immer noch hauptsächlich im Kreis eingeweihter Cinephiler bekannt sein, nicht wenige zählen Ramsay dafür zu den besten derzeit aktiven Filmemachern – männlich wie weiblich. Dabei ist ihr Output mit gerade einmal vier Langfilmen in zwanzig Jahren deutlich schmaler als der mancher gleichaltriger männlicher Kollegen. Ramsay, deren neuester Film »A Beautiful Day« in Cannes mit gleich zwei Hauptpreisen ausgezeichnet wurde, hat bisher mit jedem ihrer Filme überrascht und begeistert; ein Blick auf ihre Karriere zeigt aber auch die Schwierigkeiten, mit denen vor allem weibliche Kreative in der Filmindustrie konfrontiert werden.
Wenn es ein konstantes Thema gibt, das die durchaus heterogene Filmografie der Schottin durchzieht, dann sind es die Untiefen von Kindheit und Jugend – der schmerzensreiche Weg von der Unschuld ins Erwachsenenleben. »Ich bin in einer ziemlichen Machowelt aufgewachsen«, erklärte sie kürzlich in einem Interview über ihre eigene Kindheit. »Aber es ging auch immer sehr herzlich und humorvoll zu. Die Männer klopften die Sprüche, aber im Hintergrund zogen die Frauen die Fäden.« Ramsay stammt aus einer schottischen Arbeiterfamilie, aufgewachsen ist sie im rauen Glasgow.
Ihre drei frühen Kurzfilme sowie ihr gefeiertes Spielfilmdebüt »Ratcatcher« geben einen heftigen Einblick in die industrielle Landschaft ihrer Heimat, geprägt von Armut, Alkoholismus und Vernachlässigung – immer aber gibt es da auch Hoffnungsschimmer, Momente der Wärme. Besonders im Kurzfilm »Gasman« kündigt sich die zentrale Rolle kindlicher Wahrnehmung in Ramsays zukünftigem Werk bereits an. Es ist eine harte, männlich dominierte Welt, die Ramsay uns zeigt, aber keine gänzlich hoffnungslose. Besonders ihre Verwendung von Musik leitet immer wieder auch kleine Fluchten aus der tristen Realität ein – ein Stilmittel, das sich auch in ihren späteren Werken findet.
Ramsays enormes Talent wurde früh erkannt: Bereits für ihren ersten, episodischen Kurzfilm »Small Deaths« erhielt sie einen Preis in Cannes; ihr Spielfilmdebüt »Ratcatcher« galt schon kurz nach seiner Veröffentlichung 1999 als moderner Klassiker des britischen Kinos. In diesem ersten Langfilm bringt sie die vereinzelten Alltagsbeobachtungen ihrer vorherigen Projekte zusammen und konstruiert so ein stimmiges Porträt eines 12-jährigen Jungen im Glasgow des Jahres 1973. »Nichts lässt einen die unerträgliche Länge eines Tages nachempfinden wie der Blickwinkel eines traurigen Kindes«, schrieb Gerhard Midding in seinem Text über den Einsatz von Kindern im Kino in epd Film 3/18, und diese Beobachtung trifft auch auf »Ratcatcher« zu. Ramsays Protagonist James lebt mit seiner Familie in einer elenden Wohnsiedlung, deren Tristesse noch durch einen besonderen Umstand verstärkt wird: 1973 streiken in Glasgow die Müllmänner, der Unrat sammelt sich in den Straßen, Ratten tummeln sich zwischen den Müllsäcken.
Vor dieser grauen Kulisse kommt es zum Unglück: Bei einem freundschaftlichen Kampf im nahe gelegenen Kanal ertrinkt James’ bester Freund. Geplagt von Schuldgefühlen irrt der Jugendliche ziellos durch die ruinöse Landschaft, wo er aber bald Trost und Freundschaft bei einem älteren Nachbarsmädchen findet. Eine blasse Farbpalette und ein Cast, der zum Teil aus Laien besteht, mag »Ratcatcher« auf den ersten Blick wie einen typischen Vertreter des britischen Sozialrealismus der Marke Ken Loach wirken lassen. Eindeutig aber wollte sich die Regisseurin schon in ihrem Debüt nicht auf die Beschränkungen eines solchen realistischen Stils einlassen; eine in warmes Sonnenlicht getauchte Szene in einem Kornfeld erinnert beispielsweise eher an Terrence Malick als an Loach – eine Referenz, die später auch noch mit der Verwendung eines Musikstücks aus Malicks »Badlands« unterstrichen wird. In einer anderen Szene bindet einer von James’ Freunden eine weiße Maus an einen Luftballon und lässt sie fliegen – darauf folgt eine fantasievolle Traumszene, in der das Nagetierchen bis zum Mond aufsteigt und dort eine Familie gründet.
Wo »Ratcatcher« eine Perspektive in die Zeit kurz vor der Pubertät eröffnet, widmet sich Lynne Ramsays nächster, hierzulande leider unveröffentlichter Film »Morvern Callar« den Herausforderungen des jungen Erwachsenenlebens. Seine titelgebende Heldin ist eine Supermarktangestellte Mitte Zwanzig, deren Leben durch einem schweren Schock aus den Fugen gerät: Ihr Freund, ein junger Schriftsteller, liegt in der ersten Einstellung des Films mit aufgeschnittenen Pulsadern tot im Wohnzimmer. Morvern, grandios verkörpert von Samantha Morton, vertuscht seinen Tod, räumt das Bankkonto leer und begibt sich mit einer Freundin auf eine wilde Selbstfindungsreise nach Ibiza.
Trotz seines düsteren Anfangs ist »Morvern Callar« Ramsays hoffnungsvollster Film. Ausgehend von einer literarischen Vorlage kreiert die Filmemacherin hier eine starke weibliche Figur, welche die erneut eher lose verknüpften Akte der Story überzeugend zusammenhält. Im Gegensatz zu »Ratcatcher« ist er in kräftige Primärfarben getaucht. Noch deutlicher als in ihren anderen Filmen spielt außerdem Musik hier eine besondere Rolle: Ein Mixtape des verstorbenen Freundes mit Songs von Can, The Velvet Underground und anderen dient als Soundtrack und zugleich als erzählerischer roter Faden des Films.
Wieder wurde Ramsay für den Film in Cannes ausgezeichnet – mit dem »Preis der Jugend« – und alles sah danach aus, als folge nun ihr Durchbruch in den Mainstream mit einer Verfilmung des Jenseitsromans »In meinem Himmel«. Kurz vor Drehbeginn aber entließ sie das Studio – der plötzliche Bestseller-Status des Buchs verlangte nach einer konventionelleren und vielleicht auch männlichen Wahl: Peter Jackson übernahm das Projekt – und lieferte ein von der Kritik verrissenes Kitschspektakel ab. Dass Ramsay in Interviews kein gutes Haar an seinem Film ließ, kann man ihr kaum verübeln.
Es folgte eine lange kreative Pause, die möglicherweise auch dem enttäuschenden Erlebnis mit dem amerikanischen Studiosystem geschuldet war. Als die Regisseurin sich aber fünf Jahre später mit »We Need to Talk About Kevin« zurückmeldete, kam das einem Paukenschlag gleich: Ihre Verfilmung von Lionel Shrivers Roman war ihr bisheriges Meisterwerk und schien von einem gänzlich anderen Planeten zu stammen als die beiden ersten Filme. Erneut greift Ramsay eine besonders tragische Facette jugendlicher Lebenswelten auf: Der Film betrachtet die Vor- und Nachgeschichte eines Amoklaufs an einer amerikanischen Highschool aus der Perspektive der Mutter Eva (Tilda Swinton) des 17-jährigen Täters Kevin (Ezra Miller). Im Gegensatz zu vielen Filmemachern, bei denen der Sprung nach Amerika eine Kommerzialisierung einläutet, blieb Ramsay ihrem fragmentarischen Stil treu und baute ihn gar noch aus: Genial strukturiert folgt »We Need to Talk About Kevin« achronologisch den Erinnerungen und Assoziationen seiner Protagonistin Eva und lässt verschiedene Zeitebenen auf diese Weise elegant ineinanderfließen.
Die Gewalt, also den zentralen Amoklauf, spart die Regisseurin hingegen bewusst aus. Er ist die unzeigbare Leerstelle, der sich der Film nur durch das Nachzeichnen der Umstände – Kevins Aufwachsen – annähern kann. Die Inszenierung dieser »Coming-of-Age«-Story unter einem bösem Stern stellt auch den bisherigen, komplexen Höhepunkt von Ramsays Auseinandersetzung mit den Mechanismen des Familienlebens dar. Auch wenn sie die Sicht der Mutter wählt, die uns Kevin zunächst wie ein regelrechtes Monster erscheinen lässt, wird doch im Verlauf des Films die ungewollte Komplizenschaft der Eltern klar. »We Need to Talk About Kevin« ist aber bei Weitem keine Verteidigung des Täters, sondern ein furchtloser Blick in dysfunktionale Familienstrukturen, die sich hier ganz explizit in bürgerlichen Verhältnissen abspielen.
Dem auch kommerziell verhältnismäßig erfolgreichen Film wollte Ramsay einen weiteren Beitrag zu amerikanischer Kultur folgen lassen: Sie bereitete den klassischen Western »Jane Got a Gun« mit Natalie Portman und Jude Law in den Hauptrollen vor – eine erneute Möglichkeit, in die erste Liga Hollywoods aufzusteigen. Wieder ging alles schief, und diesmal endete es mit einem Publicity-Desaster für Ramsay. Nachdem das Studio ihr das Vertrauen entzogen hatte und sich mehr und mehr in den Kreativprozess einmischte, verließ sie das Projekt in allerletzter Minute. Es folgten diverse Gerichtsprozesse gegen sie, gepaart mit einer misogynen Schmierkampagne in den sozialen Medien, die Ramsay Alkoholismus und »Frauenprobleme« unterstellte.
Zum ersten Mal wurde ihr in aller Härte deutlich, dass für Filmemacherinnen andere Regeln gelten: »Bei einem Typen hätte das, was ich getan habe, als ›künstlerisch‹ und Zeichen von Genie gegolten – Frauen, die so handeln aber nennt man schwierig. Es ist viel härter für Frauen in dieser Branche.« In der darauffolgenden Auszeit aber stellte sich nach diesem Tiefschlag doch wieder berufliches und auch privates Glück ein: Ramsay heiratete, bekam eine Tochter und entschied sich für das Projekt »A Beautiful Day«, für das sie kurzfristig Joaquin Phoenix gewinnen konnte.
Phoenix spielt in dem Film – der 2017 in Cannes minutenlange Standing Ovations bekam – eine Art Söldner, der mit brutalen Methoden Kinder reicher, mächtiger Männer aus den Fängen von Menschenhändlern und Zuhältern befreit; abermals dreht sich der Plot also um ein Konzept von Jugend, hier aber als gnadenlos ausgebeutetes Kapital. Es ist Ramsays mit Abstand brachialster Film – wenn sich auch wie im Vorgänger die exzessive Gewalt fast immer außerhalb des Bildausschnitts abspielt.
»A Beautiful Day« ist eine erneute Meisterleistung und eine weitere Präzisierung ihres assoziativen Stils. In einer Zeit, in der Regisseurinnen, ihren besonderen Herausforderungen und der Qualität ihrer Werke endlich größere Aufmerksamkeit im Mainstream geschenkt wird, könnte dieser Film Ramsay vielleicht das Standing vermitteln, das sie längst verdient hat. »Ich bin eine starke, kompetente Filmemacherin«, erklärte sie dem britischen »Guardian«. »Man fragt mich zwar noch nicht, ob ich den nächsten Batman drehen möchte, aber ich könnte es.«
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