Interview: Marie Kreutzer über ihren Film »Corsage«
Marie Kreutzer und Vicky Krieps am Set von »Corsage« (2022). © Alamode Film
Die österreichische Regisseurin Marie Kreutzer über ihren neuen Film »Corsage« und die Frage, wie man in die Lücken der Geschichte vorstößt
Wie nähert man sich einer historischen Figur, die schon zu Lebzeiten eine Ikone war und durch jahrzehntelange Vermarktung und popkulturelle Aneignung längst zum Klischee wurde? Wie im Fall der österreichischen Kaiserin Elisabeth, deren Andenken vom Image aus den »Sisi«-Schmonzetten mit Romy Schneider überlagert ist. Auf den ersten Blick kein naheliegendes Thema für die 1977 in Graz geborene Filmemacherin Marie Kreutzer, die sich mit Filmen wie ihrem Debüt »Die Vaterlosen« (2011) über eine alternative Kommune und »Der Boden unter den Füßen« (2019) über eine Unternehmensberaterin unter psychischem und physischem Druck mit heutigen Lebensmodellen auseinandersetzte. Mit dem Historiendrama »Corsage« gelingt es Kreutzer nun, den Mythos um Sisi zu entstauben und von allem Pomp zu befreien – sie zeichnet das Bild einer Frau, die mit Anfang 40 an den Zwängen und Rollenerwartungen ihrer Zeit zu ersticken droht und dagegen aufbegehrt. Im Gespräch mit Thomas Abeltshauser erklärt die Regisseurin, wie diese Gratwanderung zwischen historischen Fakten und aktuell relevanten Bezügen entstand.
Was war der Beweggrund, sich dieser mit Erwartungen und Stereotypen behafteten Figur zu widmen?
Das begann vor einigen Jahren auf einer Kinotour zum Film »Was hat uns bloß so ruiniert«, den ich mit Vicky Krieps in einer der Hauptrollen gedreht hatte und nun zusammen mit ihr vorstellte. Und dabei fragte sie mich, ob wir zusammen einen Film über Sisi machen wollen. Sie kannte die Romy-Schneider-Filme aus ihrer Kindheit, anders als ich. Ich komme aus einem alternativen Elternhaus, wir hatten keinen Fernseher, ich habe allenfalls mal bei einer Freundin »Unsere kleine Farm« gesehen. Vicky kannte die Filme übrigens auch gar nicht von zu Hause, sondern ebenfalls von einer Freundin. Meine erste Reaktion auf Vickys Vorschlag war dann auch: interessiert mich nicht. Selbst ohne die Filme gesehen zu haben, wächst man in Österreich mit all diesem Sisi-Kult auf, all die Souvenirs mit ihrem Gesicht drauf. Das wahre Ausmaß wurde mir dann bei der Recherche bewusst: Sie ist der Tourismusmagnet Österreichs, noch vor Mozart. Die Idee blieb irgendwie in meinem Hinterkopf und lange später habe ich dann doch angefangen zu lesen und zu überlegen, ob es in dem Material etwas gibt, das mich interessiert.
Was haben Sie dabei entdeckt?
Das Spannende war, dass es sehr viele Fakten gibt, aber auch sehr viele Leerstellen und damit große Spielräume für Interpretation. Es existieren keine bewegten Bilder und keine Interviews von ihr, die Materiallage ist limitiert. Wir glauben, viel über sie zu wissen und zugleich ist vieles unbekannt. Interessant ist, wie unterschiedlich auch die Biografen Dinge interpretieren. Diese Unklarheiten haben mich gereizt. Und dann ganz besonders auch diese Phase ihres Lebens, über die ich am wenigsten wusste – in der sie tatsächlich ungefähr in dem Alter war, in dem ich auch war, also Anfang 40, wo sich manches verändert. Und das zu einer Zeit, in der 40 zu sein noch mal was ganz anderes bedeutet hat als heute, besonders für eine Frau. Über diese Phase von Elisabeth wusste ich auch am wenigsten. Man kennt die Geschichte, wie sie zur Kaiserin wurde, und dann die, wie sie umgebracht wurde. Aber das Dazwischen war mir eigentlich kaum bewusst. In dem Material habe ich dann viel gefunden, was mich interessiert und für heute relevant ist, das Frauenbild etwa. Wir werden als Frauen meist auch heute noch in der Überzeugung sozialisiert, dass wir gefallen müssen. Das als Thema fand ich zeitlos und heute noch sehr aktuell.
Wie haben Sie die Balance gefunden zwischen historischer Glaubwürdigkeit und dieser Anknüpfung an die Gegenwart?
Ich glaube, es ist immer wichtig, egal was man für einen Film macht, ob das jetzt zeitgenössisch realistisch ist oder überhöhtes Melodram oder Science-Fiction oder historisch, dass die Kunst immer ist, eine Filmwelt zu entwickeln, die in sich konsistent ist, gleichgültig, was dieses Universum konkret ist. Bei historischen Stoffen glauben wir schnell, uns auszukennen, weil wir ein paar Fotos oder Gemälde aus der Zeit vor Augen haben. Aber wir waren eben nicht dabei und vor allem nicht hinter den Kulissen. Was wir sehen, ist immer eine Repräsentation. Es ist, wie wenn wir unsere Kinder zum Schulfotografen schicken, nicht wenn sie in der Badewanne planschen oder den Momenten, in denen man aus welchen Gründen auch immer, keine Fotos macht. Alles hinter der Fassade lässt ganz viel Raum für Interpretation. Ich war oft in den Kaiserapartments im Sisi-Museum und habe da erst erfahren, dass die Möblierung dort auch eine Fiktion ist, dass es nur eine Vorstellung davon ist, wie es ausgesehen haben könnte. Historie ist immer eine Version, eine nachträgliche Erzählung. Wir haben dann gemeinsam mit Ausstattung und Kostüm versucht, eine für uns stimmige Variante zu finden.
Was heißt das konkret?
Mir war früh klar, dass ich es sehr reduziert haben möchte. Bei den Kostümen etwa ging es ja klar um die Silhouette dieser Frau, um das Eingeschnürtsein, und nicht um den Pomp. Und bei der Ausstattung war mir wichtig, dass es Leerstellen gibt, als würde etwas fehlen, dass es nicht vollgestopft ist wie bei vielen anderen Historiendramen. Das Szenenbild erzählt damit auch etwas über das Ende einer Epoche. Elisabeth hat das selbst sehr präzise erkannt und darüber geschrieben, wie es mit der Monarchie nicht ewig so weitergehen kann und wird. Auch das fand ich für unsere Gegenwart interessant, weil wir ebenso in einer Zeit leben, in der uns klar wird, dass wir so nicht weitermachen können und nicht wissen, was danach kommt.
Vicky Krieps spielt die Hauptrolle und ist auch ausführende Produzentin. Haben Sie diese Version der Kaiserin Elisabeth auch gemeinsam entwickelt?
In dem für meine Filme üblichen Maß. Grundlage ist wie immer mein Drehbuch mit den ausformulierten Szenen und dann gibt es Momente, in denen die Schauspielerin oder der Schauspieler eigene Ideen vorbringt, von denen ich manche übernehme, wenn sie im Rahmen der Geschichte sinnvoll sind. Aber die Geschichte und die Figur haben wir nicht gemeinsam entwickelt. Mir geht es beim Dreh nicht darum, eine Szene perfekt zu reproduzieren, sondern eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Darsteller*innen improvisieren und verschiedene Sachen ausprobieren können. Oft wissen sie nicht, was das Gegenüber machen wird, was genau vor der Kamera passieren wird. Da entstehen oft sehr schöne, unerwartete Momente, die so auch nicht im Drehbuch waren, das liebe ich sehr. Die Grenzen sind fließend, was in einer solchen Zusammenarbeit dann von wem kommt.
Noch mal zur Gratwanderung und dem bewussten Bruch mit historischer Korrektheit auch auf musikalischer Ebene, durch die Stücke der französischen Singer/Songwriterin Camille und anderen Interpreten. Wie ist diese Ästhetik entstanden?
Für mich war schon relativ früh klar, dass wir moderne Musik verwenden, weil ich keinen klassischen Orchesterscore haben wollte. Die Songs waren zum Teil schon auf meiner Playlist beim Schreiben des Drehbuchs. Ich wollte es aber nicht wie Sofia Coppola bei »Marie Antoinette« machen, sondern es sollte so instrumentiert und in die Handlung eingeflochten werden, dass es wirkt wie Musik von damals. Vielleicht ist der Song, den wir heute kennen, ja die Coverversion eines ganz alten Volkslieds. Und auch die Stücke von Camille sind auf eine Art zeitlos.
Das gilt auch für die Dialoge, die weder antiquiert noch gezwungen modern klingen, wie zuletzt bei bewusst ahistorischen Produktionen wie etwa der Serie »The Great« über Katharina die Große. Wie haben Sie da den richtigen Ton gefunden?
Auch das ist der Recherche zu verdanken. Mit die wertvollsten Quellen waren für mich die Tagebucheinträge der Hofdamen und die Briefe, die geschrieben wurden, von den Hofdamen, den Kindern und Franz Joseph. Wenn man so viele Texte liest, die tatsächlich in dieser Zeit entstanden sind, hat man diese Sprache so im Kopf, dass ich beim Dialogschreiben nicht darüber nachdenken musste, sondern einfach in diesem Tonfall formuliert habe. Aber natürlich verwende ich manchmal auch Ausdrücke, die es damals wahrscheinlich nicht gegeben hat. Irgendwie wird das dann ein organisches Ganzes, das erlaube ich mir. Wie bei der Musik kommt es darauf an, wie es eingebunden ist. Wenn es passiert, ohne gezwungen auf Kontrast geschrieben zu sein, kann es für interessante Irritationen sorgen.
Diese Auseinandersetzung, wie Frauen in der Gesellschaft wahrgenommen werden und welche Freiheiten sie sich erkämpfen müssen, wird gerade immer wieder in monarchischen Kontexten erzählt, in »The Great« oder auch in Pablo Larraíns »Spencer« über Lady Diana. Interessanterweise sind diese Protagonistinnen durchaus widersprüchlich; auch Sisis Verhalten ist ambivalent, zu ihren Kammerzofen etwa ist sie mitunter herablassend. Was ist das Besondere an dieser höfischen Welt?
Das kann ich schwer beantworten, weil ich mich ja nicht bewusst zu einer Erzählung aus dem Adel entschieden habe, sondern diese Figur der Sisi von Vicky an mich herangetragen wurde. Mich hat bei der Recherche fasziniert, wie viel von dem, was damals völlig normal war, heute als unsympathisch oder toxisch empfunden wird. Wie sie mit ihren Kindern umgegangen ist, war damals ungewöhnlich nah und herzlich, heute wirkt es furchtbar. Dieses Leben ist schon in vielem eigentümlich, sie war im Grunde immer von Dienstboten umgeben, da steht immer jemand herum und macht alles. Das wollte ich ganz realistisch zeigen. Umgekehrt war Franz Joseph immer äußerst höflich zu den Bediensteten, weil er bescheiden und volksnah erscheinen wollte. Er kannte jeden Namen, hat sich immer bedankt.
Ein klarer Bruch mit den historischen Fakten ist das Ende, das Sie für Sisi gewählt haben. Warum?
Weil ich wollte, dass sie die Kontrolle übernimmt über ihr öffentliches Bild, dass sie es selbst gestaltet. Ich zeige, wie sie sich eine Vertreterin sucht, weil sie diese Rolle nicht mehr spielen will, und wie sie diesen Erwartungen entkommt. Sie gibt sich die Macht über ihr Leben. Ich wollte nicht noch mal zeigen, wie am Ende ein Mann eine Frau ermordet, das sehen wir immer noch viel zu oft. Sie befreit sich auf die einzige Art, die ihr möglich ist. Und ich nahm mir diese Freiheit, weil ich es bei den Recherchen faszinierend fand, wie sie sich ab einem gewissen Alter kaum noch gezeigt hat und wenn, nur verschleiert, oder dass sie sich gleich hat doubeln lassen. Sie ist vor aller Augen verschwunden, und das lässt viel Spielraum für Spekulationen.
Welche Reaktionen erwarten Sie sich auf Ihre Neuinterpretation dieser Ikone, zumal in Österreich?
Sisi-Fans haben womöglich andere Erwartungen als ein Arthouse-Publikum, ich kann es nicht beiden recht machen. Ich versuche, mich von alldem zu befreien. Ich lese keine Kritiken, versuche mich auch von Lob unabhängig zu halten. Wenn ich anfangen würde, darüber nachzudenken, würde ich nicht mehr drehen. Man kann keinen Film machen, der alle glücklich macht.
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