Dokuserien: Wer filmt uns gerade?
Julia Reichert und Steven Bognar beim Dreh von »American Factory« (2019). © Netflix
Dokuserien boomen. Doch was ist gefilmte Wirklichkeit – und was inszenierte Story? Ein kritischer Überblick von Manfred Riepe
Als der Streaming-Boom begann, konzentrierte sich das Interesse zunächst auf fiktionale Serien. Aber zwischen »Breaking Bad« und dem »Damengambit« scheint der Geschichtenfundus ziemlich ausgereizt. Und mit der allmählichen Ermüdung des horizontalen Erzählens wuchs der Bedarf an nichtfiktionalen Inhalten kontinuierlich.
Eines der ersten dokumentarischen Formate, mit denen der VoD-Anbieter Amazon Video 2015 den Streamingmarkt betrat, ist »The New Yorker Presents«. In dieser vom Oscarpreisträger Alex Gibney inszenierten filmischen Ausgabe des gleichnamigen Printmagazins spricht der namhafte Psychiater Joel Gold über eine neue Form von Wahnvorstellung, die mit dem Boom der Dokuserien einiges gemein hat. Der Psychologe bezeichnet diese Halluzination als »Truman Syndrom«, benannt nach Peter Weirs Film »The Truman Show« von 1998, in dem der gleichnamige Versicherungsangestellte herausfindet, dass er unwissentlich Hauptdarsteller einer Realityshow ist. Immer mehr Menschen, so Joel Gold, teilen eine ähnliche Form psychotischer Wahnvorstellung. Sie glauben nicht nur, nein, sie wissen, dass jede noch so prosaische Äußerung ihres Alltags aufgezeichnet wird von Kameras, die in jedem Winkel der Welt angebracht sind.
Das Truman-Syndrom und der Boom der Dokuserien sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn bei Streaminganbietern das Angebot an dokumentarischen Inhalten beständig wächst, erscheint es dann nicht logisch, dass praktisch jeder Aspekt unseres Daseins zum Material für eine dokumentarische Betrachtung wird?
Ein Blick auf das Angebot an dokumentarischen Serien, die vom linearen Fernsehen und dessen Mediatheken, vor allem aber von Streaminganbietern bereitgestellt werden, zeigt eine thematische Bandbreite, die unser gesamtes Leben abdeckt. Wahlweise informieren kann man sich über Wirtschaftsverbrechen (»This Giant Beast«), über die tollkühnen Piloten des 24-Stunden-Rennens von Le Mans (»Racing Is Everything«) oder übers Kochen: Eine der ältesten Netflix-Dokuserien ist »The Chef's Table«, von der seit 2015 sechs Staffeln produziert wurden.
Populär sind Shows mit bekannten Darsteller:innen. In der Netflix-Serie »The Goop Lab«, einem Spin-off ihres Lifestyle-Unternehmens, testet Gwyneth Paltrow mit ihrem Team aktuelle Wellness-Trends. Angesagte Heilverfahren, von der Kältetherapie über einen Orgasmus-Workshop bis hin zum Exorzismus, werden effektvoll ins Bild gesetzt. Allerdings fungieren die dokumentarischen Bilder, wen wundert es, auch als Vehikel für Paltrows Marketing.
Thematisch verwandt mit solchen Wohlfühl-Shows ist die Netflix-Serie »Headspace«. Die Meditationsanleitung greift einen Klassiker auf: Wie sind wir spontan entspannt? Während das zuschauende Publikum mit rotierenden Grafiken im Comicstil hypnotisiert wird, erklärt Andy Puddicombe, der auch die gleichnamige international erfolgreiche Meditations-App programmierte, wie buddhistische Mönche ihm bei der Lösung dieses Problems halfen.
Ist unser »Headspace« aufgeräumt, kommt die Wohnung dran. In dokumentarischen Hausbesuchen, »Tidying Up with Marie Kondo«, führt die charmante Japanerin vor, wie eingefleischte Messies gehortete Kleidermengen auf einen Haufen werfen. Anschließend befreien wir uns von materiellem Ballast, den man insgeheim schon immer loswerden wollte. Die Lust am Aufräumen ist ja eigentlich harmlos. Dennoch wurde die Serie mit schwerem politischem Geschütz kritisiert. Kondo transportiere ein rückschrittliches Frauenbild. Und die angestrebte Ordnung in den eigenen vier Wänden – ist das nicht ein neoliberales First-World-Problem?
Das boomende Interesse an dokumentarischen Inhalten fokussiert sich besonders auf das private Leben von Prominenten. Prinz Harry und seine Partnerin Meghan Markle unterschrieben unlängst einen Netflix-Exklusivvertrag, der die beiden Royals auch vor die Kamera führen wird. Vorbild für diesen Deal ist die Vereinbarung mit dem amerikanischen Ex-Präsidenten Barack Obama und seiner Frau Michelle, über die Netflix bereits den preisgekrönten Dokumentarfilm »American Factory« über amerikanisch-chinesische Arbeitsverhältnisse sowie das ausgesprochen populäre dokumentarische Porträt von Michelle Obama, »Becoming«, produzierte.
Die Kombination aus intimer Nähe zu einem Prominenten und publikumswirksamen Massenauftritten greift auch Aljoscha Pause auf. Der Dokuspezialist produzierte für das Sport-Streamingportal DAZN, das bis dahin nur Live-Events übertrug, die formal überraschende vierteilige Serie über das Alltagsleben des sportlich stagnierenden Schützen des WM-Siegtors von 2014: Bei »Being Mario Götze« ist bereits der Titel ein Versprechen.
Zum Streamingangebot von Amazon Prime zählt eine Reihe, bei der wir sehen können, wie der exzentrische Trainer Pep Guardiola in der Kabine die Fußballer von Manchester City mit seinen stakkatohaften Motivationssprüchen rundmacht. Wir können, so scheint es, hinter die Kulissen der Truman-Show sehen. Wir beobachten, wie diese Stars, die wir sonst nur auf dem Rasen sehen, »wirklich« sind. Wirklich?
Der Blick hinter die Kulissen, den Dokuserien wagen, täuscht. Das zeigt »Bild.Macht.Deutschland«, ein ambitionierter Siebenteiler, in dem man hautnah mitbekommt, wie der »Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt seine Untergebenen zusammenfaltet. Erblicken wir dabei aber wirklich Verborgenes? Schauen wir tatsächlich mit versteckter Kamera durch ein Schlüsselloch? Diese und viele ähnliche Serien dokumentieren nur das, was die Porträtierten abgenickt haben. Die intime Nähe zu den »Protagonisten« wird oftmals mit einer vergleichsweise distanzlosen Berichterstattung erkauft. Verträge, bei denen Prominente Dokus mitunter selbst in Auftrag geben und die Regisseure ihrer Wahl gleich mitbestimmen, so der Filmemacher und Hochschullehrer Thomas Schadt, sind in dem Metier durchaus üblich.
Die Dokuserie ist ein Zwitterwesen, das sich aus verschiedenen Subgenres zusammensetzt. Sie verknüpft den klassischen Dokumentarfilm und dessen Betonung formalästhetischer Eigenständigkeit mit der Dokumentation, also der journalistischen Aufbereitung eines Stoffs. Die Dokuserie bedient sich zudem beim Dokudrama, einem vor allem im linearen Fernsehen verorteten Format, das dokumentarisches Material mit inszenierten Spielszenen mischt.
Das kann, wie etwa in Heinrich Breloers preisgekröntem dokumentarisch-fiktionalen Mehrteiler »Die Manns«, funktionieren. Oft aber sieht es, wie bei Guido Knopps NS-Dokuserien, so aus, dass ein Laiendarsteller in die Rolle eines KZ-Aufsehers schlüpft. In der zweiten Staffel der Dokureihe »Hitlers Helfer« von 1998 selektierte der Mengele-Darsteller an der Rampe von Auschwitz mit weißen Handschuhen – und zwar mit fließenden Handbewegungen, als würde er die »Träumerei« von Schumann dirigieren, die der Szene als Filmmusik unterlegt ist.
Knopp, ehemals Leiter der Redaktion Zeitgeschichte beim ZDF, missdeutete dieses Reenactment als »Beleg für Authentizität« und prägte den problematischen Begriff des »szenischen Zitats«. Es geht dabei um die Vermischung von Authentizität und Fiktion, mit welcher das lineare Fernsehen seinen Bildungsauftrag mit Unterhaltung zu versöhnen sucht.
Auf die Spitze getrieben wird dieser fließende Übergang zwischen Authentizität und Fiktion in der vielbeachteten Dokuserie »Krieg der Träume« von Jan Peter und Frédéric Goupil aus dem Jahr 2018. Zu Beginn folgt eine aufwendige Kamerafahrt einem Matrosen, der von einem angeschossenen Kriegsschiff ins Meer springt. Als er wieder auftaucht, zeigen dokumentarische Aufnahmen, wie das Schiff, von dem er sprang, sinkt. So bringt die dokumentarische Dramaserie die Fuge zwischen authentischen Filmbildern des Ersten Weltkriegs und aufwendigen computergenerierten Szenen beinahe zum Verschwinden.
Auf Streamingplattformen wird dieses Verfahren seltener und eher verhalten eingesetzt. In der mit dem Emmy gekürten Netflix-Dokureihe »Der Mensch Bill Gates« ist einmal zu sehen, wie Laiendarsteller in die Rolle des PC-Pioniers und seines Freundes Paul Allen schlüpfen. Beide durchwühlen einen Altpapiercontainer nach dem Quellcode des PDP-10-Programms, das die Grundlage für den späteren wirtschaftlichen Erfolg des Microsoft-Unternehmens bildet.
Auch politische Dokureihen greifen auf Reenactment zurück. Die vierteilige Netflix-Streamingproduktion der Gebrüder Beetz über den Fall »Rohwedder« dekliniert verschiedene Mordthesen durch. Spielszenen illustrieren, wie einmal die RAF und einmal die Stasi den unbeliebten Treuhand-Chef erschießen. Die Gebrüder Beetz zeigen aber auch eindrucksvoll, wie es (fast) ohne solche Augenwischerei geht. Ihre internationale Netflix-Koproduktion »Nisman – Tod eines Staatsanwalts« zählt zu den interessantesten Dokuserien überhaupt.
Die sechsteilige Reihe über den mysteriösen Tod des gleichnamigen Anklägers, der einen islamistischen Anschlag auf ein jüdisches Kulturzentrum in Buenos Aires aufklären wollte, erzeugt kreative Ratlosigkeit. Man erinnert sich an den Klassiker »Rashomon«, in dem sich fünf Zeugen hinsichtlich der Schilderung eines Mordes so eklatant widersprechen, dass keine Version der Wahrheit zu entsprechen scheint. Man wäre nicht erstaunt, wenn, wie in Akira Kurosawas Film, sich in diesem Mehrteiler auch Nisman selbst noch einmal aus dem Jenseits zu Wort melden und seine Version des Tathergangs schildern würde.
Streaminganbieter und lineares Fernsehen produzieren stilistisch unterschiedliche Dokuserien. So prallen in diesem Genre zuweilen Welten aufeinander. In Anlehnung an das Channel-4-Format »Benefits Street« porträtiert die RTLzwei-Sozialdoku-Serie »Hartz & herzlich« seit 2016 in nunmehr 17 Staffeln Menschen aus sozialen Brennpunkten. Zuweilen in provozierender Nahaufnahme. Inzwischen haben der Südwestrundfunk mit der als Streamingserie veröffentlichten achtteiligen Reihe »Bayreuther Straße« und das ZDF mit einem Fünfteiler über die Aschenberg-Siedlung in Fulda nachgezogen.
»Hartz & herzlich« wurde kritisiert. Die Reihe würde die Unterschicht mit abwertenden Klischees präsentieren. Armut, so ein Medienwissenschaftler, würde gezeigt als »das ganz Andere in der Gesellschaft, etwas völlig Fremdes, etwas, das man sich vom Leibe halten muss«. Die quotenstarke Reihe – die übrigens nicht geskriptet ist – deckt jedoch Symptome der Armut wie Kinderreichtum und Drogenabhängigkeit auf eine teils provozierende Art und Weise auf, die man so im linearen Fernsehen nicht findet – die man aber aushalten sollte. Mit ihrem provozierenden Voyeurismus wendet sie sich an eine eher bildungsferne Zuschauergruppe und erreicht somit ein ganz anderes Publikum als etwa der vor einem Jahr gestartete Streaminganbieter Apple TV+.
So porträtiert etwa die mit sichtbar großem Aufwand realisierte Serie »Home – Faszinierende Traumhäuser« Menschen, die sich auf exotische Weise architektonisch verwirklichen. Finanzielle Aspekte? Werden ausgeblendet. Zuweilen wie Prediger berichten Architekten von der nachhaltigen Umweltverträglichkeit des ökologischen Bauens. Dass ihre Häuser eigentlich zur Natur gehören – diesen Satz hört man gefühlt jede Minute einmal. Auch die psychologische Wissenschaftsserie »Becoming You« ist eher ein Imagefilm. Mit großem Aufwand beobachtet der von Apple produzierte Sechsteiler die ersten 2000 Lebenstage von Kindern weltweit. Deutlich werden dabei die Entwicklung des Bewusstseins, des Ichgefühls und die Einordnung des kindlichen Menschen ins soziale Gefüge. Wissenschaftlich ist das interessant. Springt jedoch ein Mädchen in türkisblaues Meer bei Borneo, so fungieren touristische Bilder wie dokumentarischer Eskapismus.
Der fünfjährige New Yorker Junge bekommt unterdessen von seinen Eltern ein gelbes Kleid förmlich aufgedrängt. Weil, so der Offkommentar, Kinder in diesem Alter noch »zwischen den Geschlechtern wechseln können«. Transportiert wird die Botschaft modischer Gender-Studies. Mit diesen Hochglanzformaten befestigt der Apple-Konzern sein Image als Bewahrer einer lebenswerten und diversen Welt, die zuweilen wie ein Abziehbild des Werbeclips United Colors of Benetton anmutet.
Denkt man diese Thematik weiter, so zeichnet sich bei einem Streamingportal wie Netflix angesichts einer Reichweite von über 200 Millionen Abonnenten eine auch bedenkliche Tendenz ab. So war der Oscar, den Netflix für die Doping-Dokumentation »Ikarus« gewann, wider Erwarten keine Garantie dafür, dass Bryan Fogels neuer Film »The Dissident« über die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi angekauft wurde. Zensur? Netflix lässt sich nicht in die Karten schauen. Es deutet sich jedoch an, dass Streaminganbieter angesichts der Expansion in neue Märkte wie Saudi-Arabien und die Türkei bei der Auswahl ihrer Stoffe Rücksicht auf politischen Druck nehmen.
Wie Streaminganbieter und lineares Fernsehen ihre Dokuserien unterschiedlich gewichten, zeigt der Vergleich zwischen zwei thematisch eng verwandten True-Crime-Formaten. In der sechsteiligen ZDF-Serie »Höllental« rekonstruiert Marie Wilke den bis heute ungeklärten Mord an Peggy Knobloch. In seinem auf Netflix verfügbaren Mehrteiler »The Staircase: Tod auf der Treppe«, einer Dokuserie über den längsten Gerichtsprozess in der amerikanischen Rechtshistorie, setzt der französische Oscarpreisträger Jean-Xavier de Lestrade das dokumentarische Material anders ein als Marie Wilke.
Der wegen Mordes angeklagte Schriftsteller Michael Petersen, der seinen Fall selbst kommentiert, erscheint in »The Staircase« wie ein Protagonist seiner selbst. Gewiss, das Material ist dokumentarisch. Doch die Struktur der Narration stützt ein fiktionales Erzählgeflecht. Mutet »The Staircase« wie ein Pageturner-Krimi an, so wird auch die Geschichte des Gurus Bhagwan, der mit seinen Sannyasins nach Oregon ins Exil ging, in »Wild Wild Country« im Stil eines Western aufbereitet. Und der Vierteiler »Jeffrey Epstein: Stinkreich« über den zwielichtigen Multimillionär, der nach seiner Verhaftung auf mysteriöse Art umkam, hat mehr Ähnlichkeit mit einem Mafiakrimi als mit einer Dokumentation über den Missbrauch Minderjähriger.
Auch die Farocki-Schülerin Marie Wilke strukturiert das Material, mit dem sie das Verschwinden der damals neunjährigen Peggy Knobloch nachzeichnet, nach einem erzählerischen Prinzip. Die Dokuserie »Höllental« ist aber kein Unterhaltungskrimi. Videobilder von der Mutter, die mit verweinten Augen vor die Presse tritt, vermitteln das Leid dieser Frau. Mehr Realität geht nicht.
Ein exotischer, aber keineswegs zu unterschätzender Aspekt des Dokuserien-Booms hängt zusammen mit dem Erfolg der YouTube-Videokanäle. Nicht wenige semiprofessionelle Videoblogger bereichern hier das Genre auf ihre Art. Wenn etwa der Kanadier Shawn James, die auf Englisch bloggende Österreicherin »Survival Lilly« oder die bayerische Überlebenstrainerin Vanessa Blank sich dabei filmen, wie sie mit einfachsten Mitteln Blockhütten errichten, Feuer machen oder Fische fangen, dann bewegt sich die Zahl der Zuschauer im zweistelligen Millionenbereich.
Möglich wird dies, weil die »Bushcraft«-Videoblogger das Paradox des dokumentarischen Genres auf die Spitze treiben. Einerseits entfliehen sie dem Gefängnis der modernen Zivilisation. Mit Sonnenkollektoren, Digitalkamera und Laptop setzen sie jedoch Hightech-Equipment ein, um ihre gefühlte Askese bequem ins Netz zu stellen. Humorvoll auf den Punkt gebracht haben dieses Paradox die britischen Komiker von »Monthy Python's Flying Circus«. In dem Sketch »The Lost World of Roiurama« gerät eine verirrte Dschungel-Expedition ohne Nahrung und Wasser in Not – bis jemand auf die Idee kommt, Hilfe vom Kamerateam in Anspruch zu nehmen. Und dann fragt einer: »Who is filming us now?«
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