Streaming-Tipp: »Rohwedder«

»Rohwedder« (Dokuserie, 2020). © Netflix

»Rohwedder« (Dokuserie, 2020). © Netflix

Fahrlässig

Man ist es schlichtweg nicht gewohnt, jüngere deutsche Geschichte im polierten Hochglanzlook präsentiert zu bekommen. Mit Dokumentationen über politisches Geschehen oder historische Kriminalfälle assoziiert man hierzulande automatisch den nüchternen, öffentlich-rechtlichen Stil, der sich über Jahrzehnte etablieren konnte. Nun aber kommt mit »Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit« die erste deutsche True-Crime-Serie beim Streaminganbieter Netflix heraus und gibt bereits mit dem reißerischen Titel die Stoßrichtung vor. Hier wird der ungeklärte Mord am Treuhandchef Detlev Rohwedder zu treibender Doku-Fiction verarbeitet – und tatsächlich funktioniert das zu Beginn gar nicht mal schlecht.

Vor allem für Spätgeborene dient die perfekt montierte Pilotfolge dieser vierteiligen Serie als gelungener Einstieg, nicht nur in den Mordfall an sich, sondern auch in den historischen Kontext: die unerbittliche Abwicklung der DDR-Wirtschaft, für die Rohwedder hauptverantwortlich war, fällt in gängigen Rückschauen schließlich häufig unter den Tisch. Der Film inszeniert sie gekonnt und eindringlich mit ausgiebigem Archivmaterial, nachgestellten Szenen im düsteren Krimilook und zahlreichen Interviews mit Politikern, Terrorfahndern, Ex-RAF-Mitgliedern, Journalisten und vielen mehr.

Es sind diese Interviews, bei denen sich erste Zweifel einschleichen, ob der nonchalante Netflixstil hier tatsächlich angebracht ist. Interviewpartner wie DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft etwa haben durchaus interessante Perspektiven beizutragen. Wenn dann aber ausgerechnet Thilo Sarrazin auftaucht und sich unkommentiert mit markigen Sprüchen selbst beweihräuchern darf (»Ich war damals der Meinung, dass der Wert der DDR null war.«), muss man sich über die Auswahl der Gesprächspartner wundern. Flake, der Keyboarder der Band Rammstein, der unvermittelt als Zeitzeuge befragt wird, mag deutlich sympathischer sein, dennoch wünscht man sich, die Filmemacher hätten mehr Historiker zu Wort kommen lassen. Das als verpönt geltende Dokustilmittel des Voice-Over-Kommentars hätte hier ebenfalls zur Einordnung beitragen können.

Davon abgesehen krankt die Serie an dem typischen True-Crime-Symptom der Dramatisierung um jeden Preis. Sicher, ein unaufgeklärter Mordfall lädt zu Spekulationen ein. Innerhalb des Rahmens der historischen Fakten und Umstände kann sich auch eine seriöse Dokumentation darauf einlassen. Im Verlauf der Serie verlassen die Filmemacher allerdings zunehmend den Boden der Tatsachen und erlauben den Befragten, sich in den Bereich der Verschwörungstheorien zu begeben. So unterhaltsam es sein mag, etwa über ein Netzwerk aus Stasikillern als Täter zu fantasieren – es gibt dafür, wie vielerorts bereits konstatiert wurde, wenig bis gar keine Anhaltspunkte. Für die Täterschaft der RAF hingegen gibt es zahlreiche Belege. Diese Theorien als gleichwertig nebeneinanderzustellen kann man in einer Zeit, in der Fakten allerorts böswillig verdreht werden, schon als fahrlässig bezeichnen.

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