Streaming-Tipp: »Filthy Rich«
»Jeffrey Epstein: Stinkreich« (Miniserie, 2020). © Netflix
»Ich will, dass er mir ins Gesicht schaut: Erinnerst du dich an mich?« sagt Michelle Licata, eine der zahllosen jungen Frauen, die schwere Missbrauchsvorwürfe gegen den Multimillionär und Investmentbanker Jeffrey Epstein erheben: »Natürlich erinnerst du dich nicht an mich, weil es Hunderte wie mich gab! Du erinnerst dich nicht an mich, aber ich werde mich bis ans Ende meines Lebens an dich erinnern.«
Eine vierstündige True Crime-Dokumentation auf Netflix rekapituliert akribisch die Chronik der Ereignisse und gibt diesen Frauen damit endlich die Gelegenheit, sich öffentlich zu äußern, eine Chance, die amerikanische Gerichte ihnen lange verweigert haben. Immer wieder ist es Epstein gelungen, sich mit seinem Geld und seinem Einfluss aus der Affäre zu ziehen. Dann, im Sommer 2019, als die Beweislage erdrückend und eine Verurteilung zu mehr als zwanzig Jahren Haft höchstwahrscheinlich war, wurde Epstein tot in seiner Zelle aufgefunden, vermutlich Selbstmord, unter mysteriösen Umständen, wie so oft in seinem Leben.
Die Frauen beschreiben ihr Leid, die Anwälte argumentieren, der Mann schweigt. Immer wieder beruft er sich auf sein Recht zur Aussageverweigerung, schiebt konkrete Vorwürfe mit einem desinteressierten »you are kidding, right?« beiseite und lässt sich den Namen einer jungen Frau, die er an ihrem sechzehnten Geburtstag missbraucht hat, die als Masseurin mehrere Jahre auf seiner karibischen Insel lebte, mit ihm in seinem Privatjet um die Welt reiste und von ihm an mehrere Freunde und Geschäftspartner weitergereicht wurde, unter ihnen soll auch Prince Andrew gewesen sein, mit provokanter Dreistigkeit buchstabieren: Virginia Roberts, eigentlich kein komplizierter Name. Die Tücke steckt im Detail, in kleinen Winkelzügen und einem Netz aus Lügen, ein Chefredakteur, der die Veröffentlichung der ersten bezeugten Fälle bremst, ein Staatsanwalt, der einen Vergleich durchwinkt, der Epstein nur 13 Monate Haft und seinen Komplizen Immunität gewährt.
Ohne den Harvey Weinstein-Skandal und die darauffolgende #metoo-Debatte könnte Epstein vermutlich noch immer sein Unwesen treiben. Der Vorwurf mancher Kritiker, der Film sei voyeuristisch und böte ansonsten keine neuen Erkenntnisse, ist Unsinn. Gewiss, das ist harter Stoff, darum ist jeder Folge auch ein Warnhinweis vorangestellt. Doch gerade für die Frauen, die vor der Kamera erzählen, was ihnen widerfahren ist, ist es essenziell, dass die Taten klar und eindeutig benannt werden, darüber hinaus werden sie mit Diskretion und Rücksicht nie anzüglich oder sensationsheischend bebildert. Entscheidend ist auch, dass es nicht nur um Epstein geht, sondern um das ganze Netzwerk aus Freunden, Bekannten und Angestellten die ihn geschützt haben, und um all die Vertreter der Presse, der Justiz, der Polizei, die sich von Epstein kaufen oder unter Druck setzen ließen. Auch wenn Epstein nicht mehr selber zur Rechenschaft gezogen werden kann, muss doch das ganze System auf die Anklagebank, das sein Tun ermöglicht hat. Da gibt es noch viele, die zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Die Serie von Lisa Bryant ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
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