Die längsten Jahre
»Dunkirk« (2017) © Warner Bros. Pictures
Der britische Kriegsfilm hat seine eigene Ikonographie: dicke Fliegerjacken, Teetassen, die unter Granateinschlägen erzittern, die berühmte steife Oberlippe. Und das alles – gerade wieder im Kino. Gerhard Midding über ein traditionsreiches Subgenre
Wird sich nun zeigen, ob Christopher Nolan eher der britischen oder der amerikanischen Art des Filmemachens zugeneigt ist? Die Chancen stehen gut, und die Messlatte liegt hoch. Wer in Hollywood einen Film dreht, der Pearl Harbor im Titel trägt, kann wohl nicht anders, als Verrat an dem Ereignis zu begehen: Michael Bays Film zumindest darf sich nicht lange mit dem verheerenden Angriff auf den Militärstützpunkt auf Hawaii aufhalten, sondern muss rasch zur Vergeltung übergehen, zum Luftangriff auf Tokio.
Mit Dünkirchen verhält es sich anders. Der Name der französischen Küstenstadt steht nicht nur für einen strategischen Rückzug, sondern für ein Debakel. Daran ist nicht zu rütteln. Aber aus britischer Sicht lässt sich die »Operation Dynamo«, die Evakuierung der eigenen Truppen, auch als logistische und demokratische Meisterleistung deuten. 338 266 Soldaten wurden innerhalb von neun Tagen von einem schmalen nordfranzösischen Strand zurück in die Heimat verschifft. An der Rettung waren auch Zivilisten mit Fischerbooten und Segelyachten beteiligt. Der Rückzug barg das Versprechen der Rückkehr.
War dies ein Sieg, der dem Abgrund einer Katastrophe entrissen wurde? Das behauptet der Trailer zu »Dünkirchen«, dem ersten britischen Kriegsfilm, der Ende der 50er Jahre ausführlich die Ereignisse vom Juni 1940 rekonstruiert. Der Slogan von Nolans Film ist bescheidener, da ist Überleben schon Sieg genug. Die Niederlage markiert auch eine Wasserscheide im britischen Kino. Fast augenblicklich wird das Geschehen zum Dreh- und Angelpunkt zahlreicher zeitgenössischer Kriegsfilme. Es liefert Grund zur Furcht und dient als Ansporn. Der Anblick der stolzen militärischen Formation am Strand ist niederschmetternd, überwältigend, unwiderstehlich. »Das sieht aus wie etwas aus der Bibel«, entfährt es einem Soldaten in »Abbitte« (2007) von Joe Wright, der den desolaten Schicksalsort dann in einer nicht enden wollenden traumhaften Plansequenz erkundet. Natürlich muss sich auch Nolan der Faszination dieser verzweifelt majestätischen Szenerie nicht entziehen. Auch ihn spornt sie an. Er hat, noch ein stolzes Rückzugsgefecht, auf 70-mm-Filmmaterial gedreht.
Britische Kriegsfilme sind näher dran als amerikanische. Der Krieg findet vor der eigenen Haustür statt, die Bedrohung ist unmittelbar (wenngleich auch entfernte Kriegsschauplätze in Nordafrika, Griechenland, Italien und im Pazifik denkwürdige Filme hervorgebracht haben). Der Tonfall, in dem erzählt wird, ist nüchterner, prosaischer und verzweifelter. Sie tragen poetischere Titel: The Way to the Stars, Ships with Wings, Ill Met by Moonlight.
Britische Kriegshelden sind Draufgänger nicht aus Abenteuerlust, sondern aus melancholischem Fatalismus und abgebrühter Verzweiflung. Auch sie kämpfen als Demokraten in Uniform, sind Zivilisten, die blitzschnell zu Profis werden müssen. Cool müssen sie dabei nicht wirken, wohl aber stur und humorvoll. Schneidig sind sie sowieso. Sie sind grimmig, lakonisch und brauchen keinen Kaugummi, um die Nerven zu beruhigen. Der Stoff ihrer Jacken ist schwerer, aber sie erlauben sich keinerlei Nachlässigkeit. Ihre Helme sehen lächerlich aus.
Zu Beginn des Krieges ist die Angst vor einer deutschen Invasion so groß, dass Verkehrsschilder übermalt oder abgebaut werden. Das ist in Wochenschauen zu sehen, aber auch im Spielfilm »Millions Like Us« (1943), der von der Heimatfront, »der größten Zivilarmee aller Zeiten« handelt. Das Kino reagiert geistesgegenwärtig und verantwortungsvoll auf die sich verändernden Realitäten: Die Grenze zwischen Dokumentarfilm und Fiktion soll verschwimmen. In »Millions Like Us« und Humphrey Jenningsʼ »Listen to Britain« (1942) werden Tanzvergnügen beim Heimaturlaub auf identische Weise gefilmt. Jennings ist der große Poet dieser Zeit. Bei ihm erscheint der Kriegsalltag wundersam und besitzt das von deutschen Bombern heimgesuchte London trotzige Schönheit. In seinen Filmen wechselt der Offkommentar von der Vergangenheitsform ins Präsens und macht den Zuschauer zum Zeugen einer Historie, die sich unmittelbar vor seinen Augen zuträgt.
Die Spielfilme würdigen währenddessen die heroischen Anstrengungen aller Waffengattungen. Auch hierfür sitzen oft Dokumentaristen im Regiestuhl. Das Publikum will erst wieder eskapistische Filme sehen, als sich der Sieg abzeichnet. Der größte Erfolg dieser Zeit ist »In Which We Serve« (1942) von Noël Coward und David Lean, dessen erste fünf Minuten den Bau eines Zerstörers dokumentarisch zeigen, bevor die Angriffslust seiner Besatzung aufflackern darf. Carol Reed verleiht ihr in »The Way Ahead« (1944) eine geradezu heitere Note. Es ist Wildwuchs möglich. Alberto Cavalcanti bereichert den Propagandafilm mit »Went the Day Well?« (1944) um eine subversive, nachgerade Buñuel’sche Variante. Nach einer Vorlage von Graham Greene erzählt er vom Widerstand eines Dorfes gegen eine – als Manöver britischer Truppen getarnte – deutsche Invasion, bei dem die Wehrhaftigkeit der unbescholtenen Dorfbewohner in eine verstörende Mordlust umschlägt.
Das Kino spiegelt ein verbissen zuversichtliches Gemeinschaftsgefühl wider. Das federführende Ministry of Information, für das auch Alfred Hitchcock zwei Kurzfilme drehte, legt Wert darauf, dies als the peopleʼs war zu schildern. Winston Churchill, den das Kriegsgeschick zeitweilig von seinen Depressionen erlöst, versichert dem Volk im Mai 1945: »Itʼs your victory.«
Nach dem Krieg kehrt Stille in das Genre ein; nicht nur in Großbritannien. Man gewinnt fast den Eindruck, die vormaligen Kriegsgegner hätten weltweit (wenn auch nicht ausnahmslos) ein Moratorium beschlossen oder zumindest eine stillschweigende Übereinkunft getroffen, dem Publikum Kriegsfilme, die bis dahin ja wesentlich Propaganda waren, vorerst nicht zuzumuten.
Erst Ende der 40er Jahre, als ein neuer, ein kalter Krieg beginnt, schließt sich dieses Zeitfenster. In Großbritannien wird das Genre, im Gegensatz zu den USA, kein Terrain antikommunistischen Furors; nicht einmal als Allegorie. Es dient der nostalgischen Selbstvergewisserung. Zuzeiten blickt es gar voraus auf eine europäische Gemeinschaft, die entstehen soll. »The Colditz Story« (»Im Schatten der Zitadelle«, 1955) von Guy Hamilton, einer der größten Kassenerfolge der 50er, beschwört die Solidarität unter britischen, französischen, holländischen, polnischen und russischen Kriegsgefangenen, die gemeinsam die Flucht aus dem gefürchteten Lager in Sachsen planen, wobei unbeugsame britische Arroganz durchaus zu Misstönen führt.
Mit dem Neuanfang Ende der 40er könnte eine Epoche der Verklärung, der Mythen beginnen. Erst sieht es nicht danach aus. »The Small Back Room« (»Experten aus dem Hinterzimmer«, Michael Powell, Emeric Pressburger, 1949) schildert das Kriegstrauma eines Bombenentschärfers; David Leans »The Sound Barrier« (»Der unbekannte Feind«, 1952) ist ein Meisterstück des subjektivierten Erzählens, das regelmäßig die Perspektive der Heldin (Ann Todd) einnimmt, die bei Testflügen zuerst ihren Bruder und dann ihren Ehemann verliert; in diversen Graham-Greene- und Terrence-Rattigan-Verfilmungen müssen zivile Tragödien überwunden werden. »The Cruel Sea« (»Der große Atlantik«, Charles Frend, 1953) nach dem Roman von Nicholas Monsarrat stellt zwar den Auftakt zur kommerziellen Blüte des Genres dar, das zum umsatzstärksten dieses Jahrzehnts werden wird. Die Produktion der Ealing Studios über ein zu Kriegszwecken requiriertes Schiff der Handelsmarine sendet indes gegensätzliche Signale aus: Sie zeigt einen Kriegsalltag voll Mutlosigkeit, Langeweile und unausweichlich grausamer Entscheidungen, hat aber auch ein Flair von Trainingsfilm.
Die Heldenverehrung ist auch in diesem Jahrzehnt in der historischen Realität verankert, es gibt zahlreiche Biografien von Kriegsheroen wie Douglas Baader. Die Darsteller sind von eher schmächtiger, untersetzter Gestalt: Kenneth More, Richard Todd (ein Veteran des D-Days) und Richard Attenborough (gern als Feigling oder Verräter besetzt) konsolidieren ihren Starruhm, John Mills wird endgültig zum Gesicht des Krieges. Ihre Physiognomie unterstreicht, dass sie gewöhnliche Helden aus der Mitte des Volkes sind. Zugleich handeln die Kriegsfilme von einer konfliktreichen Stammeszugehörigkeit, da sich Klassenunterschiede deutlich in der militärischen Hierarchie widerspiegeln.
Sie zelebrieren technischen Erfindungsreichtum, mit dem den Superwaffen, die die Nazis entwickeln wollten, Einhalt geboten wird. Dabei treten Sportsgeist und Exzentrik zutage. »The Dam Busters« (»Mai 1943 – Die Zerstörung der Talsperren«, Michael Anderson, 1955) handelt vom entscheidenden Schlag gegen die Infrastruktur der Schwerindustrie im Ruhrgebiet. Die Entwicklung der Bomber führt vor Augen, dass es vom Kinderspiel zur Kriegstechnik oft nur ein kleiner Schritt ist. Auch das britische Geschick, Täuschungsmanöver zu inszenieren, wird hinreichend gewürdigt. Es gibt einen Film über Feldmarschall Montgomerys Double; »The Man Who Never Was« (»Der Mann, den es nie gab«) rekonstruiert 1956 die »Operation Mincemeat«, bei der eine präparierte Leiche an der spanischen Küste platziert wurde, die mit einer fingierten Biografie und Falschinformationen über die alliierte Landung in Italien versehen war. Eine Satire über die in Südengland inszenierten Truppenbewegungen mit Pappmaché-Panzern steht noch aus.
Einige Filmemacher sind unberechenbare Patrioten. Das Gespann Michael Powell und Emeric Pressburger hat stolzen Anteil am war effort, verweigert sich aber simplen Grenzziehungen zwischen Freund und Feind. In ihrem ersten Kriegsfilm »49th Parallel« (»Der 49. Breitengrad«, 1941) gelingt ihnen die Gratwanderung, ein deutsches Sabotageunternehmen in Kanada konsequent aus der Sicht der Nazis zu erzählen und zugleich deren Ideologie zu denunzieren. Ihre Filme während der Kriegszeit, darunter »A Canterbury Tale«, propagieren verschmitzt die britisch-amerikanische Verständigung. »Leben und Sterben des Colonel Blimp« zieht jedoch 1943 den Zorn Churchills auf sich, weil eine Hauptfigur ein überaus einnehmender, kultivierter Deutscher ist. In »The Small Back Room« brechen sie das Tabu der Schilderung eines Traumas. Mit »The Battle of the River Plate« (»Panzerschiff Graf Spee«) wiederholen sie 1956 ihren früheren Fehler und zeigen einen aufrechten deutschen Kommandanten.
Powell und Pressburger sind verfemt, aber keine Solitäre. »The One That Got Away« (»Einer kam durch«, 1957) mit Hardy Krüger bezeugt Respekt vor den soldatischen Tugenden des Fliegers Franz von Werra: Die Flucht ist schließlich die noble Pflicht jedes Kriegsgefangenen. In David Leans »Die Brücke am Kwai« (1957) herrscht eine noch größere Ambivalenz, ein paradoxer Suspense. Einerseits bewundert man die Unbeugsamkeit und die Ingenieursleistung des britischen Colonels, der in japanischer Kriegsgefangenschaft die perfekte Eisenbahnbrücke baut – und zugleich fiebert man mit dem Kommandounternehmen, das sie sprengen soll. Leans Film begibt sich noch auf ein weiteres patriotisches Minenfeld: Die Besetzung eines Hollywoodstars (William Holden) gemahnt an den chronischen Hang des US-Kinos, Siege zu feiern, an denen die eigenen Landsleute in Wahrheit gar nicht beteiligt waren. Zweifellos ist der tumbe amerikanische Flieger, den das Filmteam aus Lone Scherfigs »Ihre beste Stunde« in Kauf nehmen muss, eine späte Rache.
Die nüchterne, »realistische« Tendenz des britischen Kriegsfilms verlangt nach Schwarz-Weiß. In den 60ern, als die Farbe zum Standard wird, gerät das Genre in die Krise. Es spaltet sich auf. Großspurige Blockbuster über Kommandounternehmen wie »Die Kanonen von Navarone« (der Werbeslogan »The biggest bang in cinema history!« mochte 1961 sogar gestimmt haben) oder »Where Eagles Dare« (»Agenten sterben einsam«, 1968) reüssierten noch an den Kinokassen. Gleichzeitig schlägt das Pendel heftig in Richtung Satire und Desillusionierung aus. In »The Hill« (»Ein Haufen toller Hunde«, 1965) schildert Sidney Lumet Demütigungsexerzitien in einem Gefangenenlager; in »Wie ich den Krieg gewann« (1967) von Richard Lester soll ein Kricketfeld hinter feindlichen Linien errichtet werden; mit »Play Dirty« (»Ein dreckiger Haufen«, 1969) gelingt André de Toth ein Meisterwerk des Zynismus, in dem der Krieg zum Spielfeld berechnender Krimineller wird. Schon die Herkunft der Regisseure und Drehbuchautoren der genannten Filme weist auf eine Identitätskrise hin: Sie kommen meist aus Hollywood. In »It Happened Here« (1965) wagen immerhin zwei Einheimische, Kevin Brownlow und Andrew Mollo, eine erste kontrafaktische Erzählung, in der Nazideutschland gewonnen hat.
Der Vergeltung für Dünkirchen widmet das britische Kino viel später, 1969, ein eigenes Epos. »Battle of Britain« (»Luftschlacht um England«, 1969) handelt von Hitlers erster Niederlage, bei der ein David mit 650 Spitfires einem Goliath mit 2500 Jagdfliegern und Bombern trotzt. Allerdings wurde Guy Hamiltons mit Starauftritten gespickte Verfilmung weder ein kommerzieller noch ein künstlerischer Triumph – es treten derart viele Figuren auf, dass man für keine nachhaltiges Interesse entwickelt. Der britische Kriegsfilm tat immer gut daran, sich auf überschaubare Dramen zu konzentrieren. »Luftschlacht um England« hätte eigentlich ein Auslaufmodell sein müssen, fand aber ein hochkarätig besetztes Nachspiel in Richard Attenboroughs »A Bridge Too Far« (»Die Brücke von Arnheim«, 1957). Sam Peckinpahs »Steiner – Das eiserne Kreuz« (1977) entstand zwar als britische Koproduktion, war aber nur in der BRD erfolgreich.
Ein Meisterwerk bringt das Genre aber doch noch hervor. »Overlord« (1975) von Stuart Cooper verschmilzt Dokumentarmaterial und Spielszenen zu einer faszinierenden Einheit. Der Silberne Bär für die Beste Regie auf der Berlinale 1975 war umstritten, aber wohlverdient. Die Montage integriert nicht nur brillant die dokumentarischen Elemente, sondern gewinnt eine assoziative, fast Resnais-hafte Wendigkeit, in der sich Zeit- und Realitätsebenen vermischen. Der Film ist gewissermaßen überall gleichzeitig. Er zeigt den entmenschlichenden Kriegsalltag in einer Konsequenz, die sogar Stanley Kubrick beeindruckte. Er hat sich bei den Drill-Szenen viel für »Full Metal Jacket« abgeschaut. In »Overlord« gipfelt nicht nur die dokumentarische Tendenz, sie kehrt sich um in Zweifel. Der Film hat noch einen anderen Vorzug: Er ist in unbestechlichem Schwarz-Weiß gedreht.
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