Auf Festivals sind sie zu Haus – Das deutsche Independent-Kino

»Dicke Mädchen« (2012) mit Peter Trabner und Heiko Pinkowski

»Dicke Mädchen« (2012) mit Peter Trabner und Heiko Pinkowski

Serie zur Lage des Independent-Kinos. Teil 5: Deutschland

Was ein Independent-Film ist, lässt sich heute nicht mehr so leicht sagen. Muss er billig sein? Verbindet sich mit dem Begriff ein ästhetisches Konzept? Eine globale Spurensuche

Der Begriff »Indie-Kino« ist das Biosiegel im Filmbereich. Von glücklichen Filmemachern empfohlen. Doch gibt es überhaupt Independent-Filme in Deutschland? Sind hierzulande nicht entweder fast alle Filme unabhängig produziert – oder keiner? Je nach Blickwinkel lässt sich für beide Sichtweisen argumentieren. In einem System, in dem Filmförderungen und Fernsehsender von Anfang an Einfluss auf das filmische Produkt nehmen, ist Unabhängigkeit offensichtlich eine problematische Kategorie.

Als offizielle Sprachpraxis der Filmförderanstalt FFA gilt: »Independent-Filme sind generell Filme, die unabhängig von großen Studios entstehen.« Doch nun stammt der Independent-Begriff unverkennbar aus den USA, und große Studios mit einer Marktmacht wie in Hollywood gibt es in Deutschland nicht. Selbst wenn man Bavaria Film, Studio Babelsberg, Warner Bros. oder Produzentenschwergewichte wie Constantin Film und UFA Cinema dazu zählen würde, müsste die Mehrzahl aller Filme in Deutschland als Indie gelten.

Die Lonesome Cowboys der deutschen Filmszene

Erfolgversprechender erscheint eine Annäherung von der anderen Seite: Wovon sind Filmemacher in Deutschland eigentlich abhängig? Fernsehredakteure und Filmfördergremien verändern durch ihre Mitwirkung die ursprüngliche Idee, auch Produzenten und Verleiher reden mit. »Wer zahlt, schafft an«, lautet die alte Devise. Die Vermutung liegt nahe, dass wahrhaft unabhängiges Filmemachen also nur unter Ausschluss dieser beeinflussenden Faktoren möglich ist. Handelt es sich beim Independent-Film in Deutschland somit ausschließlich um selbst produzierte Autorenfilme, die möglichst unabhängig ins Kino gebracht werden? Und bedeutet der Verzicht auf Fördermittel automatisch, dass Indies No-Budget-Filme sein müssen? Ein solches Eingeständnis hätte vor allem eines zur Folge: Der Filmemacher soll als eierlegende Wollmilchsau alles können, vom Drehbuch bis zur Vermarktung. Geld verdienen lässt sich damit kaum. 60 Prozent aller 2015 im Kino gestarteten deutschen Filme erreichten bundesweit weniger als 20.000 Besucher. Für jeden vierten Dokumentarfilm aus deutscher Produktion sind sogar nur drei- oder zweistellige (!) Besucherzahlen nach Kinostart an der Tagesordnung. Trotz drohender Armut gibt es Indie-Auteurs, doch kaum einer nimmt sie wahr. Sie sind die Lonesome Cowboys der deutschen Filmszene. Und vereinen dabei das zweite essenzielle Kriterium für einen Indie: Durch die große Freiheit gelingt es ihnen leichter, mutige filmische Entscheidungen überraschend kreativ und gegen die Sehgewohnheiten umzusetzen.

Herzliches Lachen, Tragik des Alltags: German Mumblecore

Eine Erfolgsgeschichte ist die von Axel Ranisch. Der Durchbruch gelang ihm 2011 nach eigenen Angaben mit einem Budget von 517,32 Euro. Gedreht wurde in der Wohnung seiner Oma, ohne professionelles Licht, mit zwei befreundeten Schauspielern. Ohne Vorgaben von außen, aus dem Bauch heraus. Die Story ist schnell erzählt: Der Sohn einer dementen älteren Dame verliebt sich in deren Pfleger. Und tanzt nackt Bolero. »Dicke Mädchen« war eine Herzensangelegenheit für den jungen Regisseur, nachdem fünfzehn Drehbücher für seinen Abschlussfilm abgelehnt worden waren. Improvisiert, wild und energiegeladen gilt »Dicke Mädchen« – zusammen mit »Papa Gold« von Tom Lass – als Aufbruch in eine neue Bewegung: den German Mumblecore. Ohne Drehbuch und möglichst unabhängig entstehen seitdem die Filme dieser Strömung, die aktuell als Zentrum des deutschen Independent-Kinos gelten kann. Nach den Regeln von Ranischs »Sehr gutem Manifest« drehte Philipp Eichholtz »Liebe mich!« und »Luca tanzt leise«; hinter dem Namen seiner Produktionsfirma »Von Oma gefördert« steckt mehr Wahrheit, als man glauben möchte. Luise Brinkmann wiederum gelang mit dem erfrischenden Impro-Liebesfilm »Beat Beat Heart« gegen viele Widerstände der erste Langspielfilm, der jemals an der ifs Köln entstehen konnte. Und selbst eine Ludwigsburger Drehbuch-Absolventin, Julia C. Kaiser, entschied sich, ihr Debüt Das Floß! improvisiert zu inszenieren.

»Luca tanzt leise« (2016). © Hildebrandt Film

Der Schluss liegt nahe: Deutsches Improvisationskino belebt die Szene und bietet Nachwuchsregisseuren offensichtlich bessere Chancen für den Einstieg ins Berufsleben. Meist handelt es sich beim German Mumblecore um Tragikomödien. Nur ist das Lachen herzlicher und das Tragische alltäglicher, als man es sonst aus dem deutschen Kinogeschehen kennt. Ranischs Film »Dicke Mädchen« wurde übrigens ein Erfolg: Von den Hofer Filmtagen aus startete er seinen Siegeszug über Lünen und »achtung berlin« bis zum am Rande des amerikanischen Indie-Mekkas Sundance ausgetragenen Slamdance Film Festival, wo Ranisch den Spezialpreis der Jury ­erhielt. Mit den Auszeichnungen gelang ihm auch der Sprung in die bezahlte Filmbranche. Fünf Jahre nach »Dicke Mädchen« drehte Axel Ranisch kürzlich für den SWR den ersten improvisierten »Tatort« der Fernsehgeschichte: »Babbeldasch« mit Ulrike Folkerts wird in diesem Monat ausgestrahlt.

Drehen am Wochenende: Indie-Auteurs

Aber auch ohne kommerzielle Erfolge gibt es Indie-Auteurs in Deutschland. Das Filmemachen ist für sie häufig ein Ausbruch aus der beruflichen Alltagsroutine. Ihr Enthusiasmus für den eigenen Stoff ist kaum zu toppen. Immer wieder sind es Film- und Fernsehschaffende, die eigene Regiearbeiten auf diesem Wege frei und unabhängig realisieren wollen. Exemplarisch zu nennen ist Bernd Michael Lade, bekannt aus Kultfilmen wie »Karniggels« und »Komm, süßer Tod« sowie als Teil des Kommissar-Duos Kain & Ehrlicher an der Seite von Peter Sodann. Lade realisierte inzwischen seine dritte Regiearbeit: »Das Geständnis« ist ein beklemmendes Kammerspiel einer Ostberliner Mordkommission kurz vor dem Mauerfall – gedreht mit einem glänzend agierenden Männer-Ensemble innerhalb von vierzehn Tagen auf der Probebühne des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin. Ohne Förderung, ohne Sender. Und stets auf den Punkt.

Ein sehenswertes Regiedebüt gelang der Schauspielerin Julia Becker mit »Maybe Baby«. Kinderwunsch: ja oder nein? Vielleicht. So wirklich kann das die Mittdreißigerin Marie (gespielt von der Regisseurin selbst) nicht entscheiden – und dann erwischen sie und der potenzielle Kindsvater sich auch noch gegenseitig beim Seitensprung auf einer Almhütte. Ohne Fluchtoption. Hervorstechend ist die ausschließlich von noch unbekannten Indie-Bands stammende Musik in Beckers über Crowdfunding und private Mittel finanziertem Ensemblefilm. Unabhängig bedeutet dabei Schnelligkeit: Zwischen der Fertigstellung des Drehbuchs und dem Drehbeginn lagen weniger als drei Monate.

»Das Geständnis« (2015). © Aries Images

Weit trashiger kommt die Agentenkomödie »Warum Siegfried Teitelbaum sterben musste« daher: Theater- und Filmschauspieler Axel B. Steinmüller konnte für seine schwarzhumorige Mafia­geschichte gestandene Kollegen wie Michael Mendl und Joseph Hannesschläger gewinnen. Die Dreharbeiten erstreckten sich über zwanzig Wochenenden, da der Großteil des Teams unter der Woche bezahlten Tätigkeiten nachging. Finanziert wurde das Langfilmdebüt Steinmüllers durch Crowdfunding und private Sponsoren.

Noch radikaler geht der Mainzer Filmemacher Niko Kühnel vor: Mit Freunden dreht er, wohin es ihn verschlägt. Jedes Urlaubsziel wird genutzt, Sportkameraden und Laienschauspieler stehen vor der Kamera. Kein Geld bedeutet für ihn Unabhängigkeit, um Förderung hat er sich nie beworben. Hauptberuflich ist er Cutter beim ZDF. Sein jüngstes Werk ... »und der Rest ist Geschichte« ist ebenfalls eine trashige Agentengeschichte und handelt von der Entdeckung des Perpetuum mobile, das durch einen Zufall fatalerweise in die Hände eines Journalisten fällt. In Deutschland kaum wahrgenommen, feierte der Film 2015 beim New Yorker Independent Film Festival seine Premiere und gewann die November-Edition des Indie-Festivals in Miami.

Der Nachtmahr und wie er in die Welt kam

Um die Welt ging auch »Der Nachtmahr«: eine alptraumhafte Obsession des Regisseurs und Bildhauers AKIZ, der fünfzehn Jahre seines Lebens in den Werdegang von der titelgebenden Skulptur – einer Mischung aus uraltem Menschen und Embryo, die einem jungen Party-Girl erscheint – bis zum fertigen Film investierte. Bis zu acht Puppenspieler gleichzeitig erweckten die Figur am Set zum Leben. AKIZ hatte für den Film zeitweise aus Geldmangel sogar seinen festen Wohnsitz aufgegeben und lebte in einem LKW. Entstanden ist ein mythischer und fesselnder Genrefilm, der international das Festivalpublikum in seinen Bann zog, vielfach Preise gewann und für den beim Filmfest München 2016 gar eine eigene Werkschau mit Kurzfilmen von AKIZ ausgerichtet wurde. Zusammen übrigens mit einer Art Tutorial für Independent Filmmaking unter Extrembedingungen: Riki Bornhaks sehenswerte Making-of-Doku »Der Nachtmahr und wie er in die Welt kam«.

Mit Schwert und Kettensäge: Neuer Deutscher Genrefilm

Genrekino jenseits von Krimi und Komödie gilt schon seit langem als abseitig in Deutschland und ist von daher per se unabhängig. Mit dem Aufkommen der Videokassette in den 1980ern entstand ein neuer Markt dafür; der bundesrepublikanische Independent-Film war fortan im Schocker- und Splattersegment beheimatet. Heute formiert sich eine interessante Bewegung, die dem schwachbrüstigen Genrekino frisches Blut einimpfen will.

Der »Neue Deutsche Genrefilm« hat sein Stammfestival in der alljährlichen Genrenale, die während der Berlinale im Berliner Babylon-Kino stattfindet. Stilecht wird dort im Trailer einem animierten Bären der Kopf mit der Kettensäge abgetrennt. Und gekämpft wird für Genres wie Science-Fiction, Thriller, Action, Horror und Fantasy: »Den deutschen Genrefilm zeichnet aus, dass es ihn in der internationalen wie auch nationalen Wahrnehmung praktisch nicht gibt. Dies wollen wir zuallervorderst ändern«, erklären die Begründer der Bewegung auf ihrer Homepage genrefilm.net.

»Der Samurai« (2014). © Salzgeber

Bisher entstanden überwiegend Kurz- und Mittellangfilme, doch vereinzelt gibt es bereits abendfüllende Werke wie Till Kleinerts »Der Samurai« über einen schwertmordenden Polizisten in der brandenburgischen Provinz oder Tini Tüllmanns komplett aus eigener Tasche finanzierter Dr. Jekyll/Mr. Hyde-Adaption »Freddy Eddy« am Tegernsee, einem in Hof und Lünen preisgekrönten Psychothriller um einen jungen Maler mit einer mysteriösen Doppel-Identität. Bis zum Schluss: überraschende Wendungen. Einen der Genrenale-Preise verlieh bis 2016 das Enfant terrible des deutschen Independent-Films: Dr. Uwe Boll, der einst mit der Goldenen Himbeere für das schlechteste Lebenswerk »ausgezeichnet« wurde und sich gerade aus dem aktiven Filmgeschehen zurückgezogen hat. Seine privat finanzierten Videospieladaptionen wurden meist kritisch beäugt, waren aber zeitweise im Home-Video-Bereich sehr erfolgreich. Für seinen letzten Film »Rampage: President Down« standen ihm nach eigenen Angaben fünfzehn Millionen US-Dollar zur Verfügung. Kann das noch ein Indie sein? Inzwischen betreibt Boll ein Luxusrestaurant in Vancouver.

»Wenn Ihnen dieser Film gefallen hat ...«

Ob gefördert oder nicht, ob German Mumblecore oder Neuer Deutscher Genrefilm – die Schaffung eines Labels birgt für jede Independent-Bewegung Vorteile. Schon die (anfangs eher ungeliebte) Zuordnung zur Berliner Schule um Christian Petzold, Thomas Arslan und Angela Schanelec verhalf den Filmemachern bei Publikum und Kritikern zu internationaler Anerkennung. Eine Werkschau der Berliner Schule schaffte es 2013 sogar ins New Yorker Museum of Modern Art. Die Aufnahme ins MoMA war der Ritterschlag für die »Berlin School«. In Zeiten von Internet-Algorithmen im Stile von »Wenn Ihnen dieser Film gefallen hat, könnte Sie auch jener interessieren ...« erscheint es legitim, in solchen Kategorien zu denken. Es stellt sich die Frage: Welche Labels könnte man im aktuellen deutschen Independent-Geschehen vergeben?

Poesie und Sex: Die »Neue Deutsche Sinnlichkeit«

Deutlich wahrnehmbar ist eine »Neue Deutsche Sinnlichkeit«, ein poetisches und sexuell aufreizendes Kino, wie man es bei uns lange nicht gesehen hat. Der Abschlussfilm der Wahl-Münchnerin Uisenma Borchu »Schau mich nicht so an« mit ihr selbst und Josef Bierbichler in den Hauptrollen brachte Borchu nicht nur weltweit Preise, sondern auch die Bezeichnung »The Face of the New German Cinema« auf goldenglobes.com ein. Geradezu elektrisierend erzählt die gebürtige Mongolin die Geschichte einer generationenübergreifenden Ménage-à-trois, die man nicht verpassen sollte. »Jonathan« von Piotr J. Lewandowski, uraufgeführt 2016 in der Berlinale-Sektion Panorama, gehört auch zu dieser Strömung. Schöne Menschen haben leidenschaftlichen Sex im Stroh und auf dem Sterbebett. Prickelnd, aber nie pornografisch. Die Farben sind strahlend warm. Ein Schmetterling darf in Großaufnahme davonfliegen. Es ist ein Film, der atmet. Und Lewandowski inszeniert sein sinnliches Familiendrama gekonnt stets knapp vorbei am Kitsch. Der Drang nach einem poetischeren Kino in Deutschland ist auffällig: In der Sektion Neues Deutsches Kino beim letztjährigen Filmfest München konnte fast jeder dritte Beitrag dieser »Neuen Deutschen Sinnlichkeit« zugeordnet werden.

»Schau mich nicht so an« (2015). © Zorro Film

Hybride Welten

Hybridfilme sind außerdem auf dem Vormarsch. Dabei handelt es sich um Kombinationen aus Dokumentarischem, Fiktivem und Essay, verbunden mit einer außergewöhnlichen visuellen Kraft. ­Nicolas Steiners »Above and Below« zeigt auf diese Weise den Lebensalltag von Menschen am Rande der amerikanischen Gesellschaft, während Bastian Günther in »California City« einen Schädlingsbekämpfer durch die Wüste schickt, der Moskitos in verlassenen Swimming-Pools vernichten soll. Starke Bilder und ungewöhnliche Figuren lassen dem Publikum jene fast außerirdisch wirkenden Welten näher kommen, als man vermuten könnte. Es sind Filme, die weitergären.

Entführt den Redakteur!

Bissiger hingegen erscheinen politische Indie-Filme, die sich gegen das Filmsystem wenden. In der bitterbösen Satire »Der Kuckuck und der Esel« von Andreas Arnstedt (ausgezeichnet mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino 2014 in Hof) wird der Redakteur eines öffentlich-rechtlichen Senders gekidnappt, weil er das Drehbuch des fiktiven Regisseurs trotz der Umsetzung aller geforderter Änderungen immer wieder abgelehnt hatte. Der Unmut am bestehenden Filmsystem scheint zuzunehmen: Die Premierenvorstellung des Dokumentarfilms »Verfluchte Liebe deutscher Film« von Dominik Graf und Johannes F. Sievert im Berliner Delphi-Kino führte zu einem hörbaren Rumoren in der Branche. Stück für Stück demonstrieren Graf und Sievert anhand ebenso amüsanter wie erschreckender Beispiele, was alles in jüngerer Vergangenheit im deutschen Film schiefgelaufen ist. Die Trennung zwischen E und U, Ernstem und Unterhaltendem, habe etwa ihre Ursache in der gescheiterten Zusammenarbeit zwischen Bernd Eichinger und Roland Klick bei »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«.

50 Jahre Klaus Lemke

In eine ähnliche Kerbe schlägt der gänzlich unabhängig produzierte Dokumentarfilm »Zeigen was man liebt« des Hamburger Regietrios Göhre, Richter und Stegmann. Hier wird die Münchner Gruppe um Klaus Lemke, Rudolf Thome, Max Zihlmann, May Spils und Werner Enke zur wahren deutschen Nouvelle Vague ausgerufen. Lemke ist ohnehin der große Indie-Filmer, der am längsten durchgehalten hat. 1967 drehte er sein Langfilmdebüt »48 Stunden bis Acapulco«, dann entdeckte er Iris Berben, Cleo Kretschmer und Wolfgang ­Fierek, zuletzt, 2016, legte er »Unterwäschelügen« vor. Bis heute dreht er mit Laien und kämpft gegen »Papas Staatskino«. Lemkes Rezept: »Ich werfe jeden zweiten Film weg. Niemand hat meine schlechten Filme gesehen!«

Kölner Gruppe für gelbe Telefonzellen

Für viele Indie-Filmer ist Lemke ein Idol, auch wenn er vom ZDF gefördert wird. Geschätzt wird er beispielsweise von der Kölner Gruppe, einem lockeren Zusammenschluss unabhängiger Filmemacher im Umfeld des Filmclubs 813. Deren Langfilme sind echte Independents: Ging es in »Die Quereinsteigerinnen« (übrigens mit Lemke als Darsteller) noch darum, die Abschaffung der gelben Telefonhäuschen durch die Entführung eines Telekomchefs zu verhindern, so konnte man das Roadmovie »Hans Dampf« als moderne Märchenadaption von Hans im Glück verstehen. Stets gewürzt mit einer Prise Musikfilm und melancholischer Gesellschaftssatire. Ein Film wie ein Mixtape. Das neueste Werk der Kölner war im vergangenen Herbst bundesweit im Kino zu sehen: In »Weiße Ritter« wird der Kapitalismus in brillantem Schwarz-Weiß entlarvt. Zwei Männer werden ohne ihr Wissen für einen Geldwäsche-Deal in Luxemburg engagiert. Mit geschliffenen Dialogen und kunstvollem Schweigen führen die beiden im Ritterkostüm einen absurden Kampf gegen Windmühlen.

»Weiße Ritter« (2015). © Westendfilme / Anna C. Wagner

Dada meets Free Jazz

Selbst ein dadaistisches Spielfilmkino existiert als Randbewegung in Deutschland: Helge Schneider trat mit »00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse« den Beweis seiner These an, dass das Zeitalter der Spannung spätestens seit Hitchcock beendet und nun die Zeit der »Ent-Spannung« angebrochen sei. Ein Mann mit Kokosnussbrüsten spielt die amerikanische Tante, mühsam wird ein Kühlschrank über einen verschneiten Berg gezogen. Schneiders Free Jazz wird in Bildsprache übersetzt. Ähnliche Wirkung hat Timo Jacobs' »Mann im Spagat«, der das letztjährige »achtung berlin«-Festival eröffnete. Als Regisseur und Schauspieler übernimmt Jacobs ebenfalls eine wiederkehrende Kunstfigur; sein Protagonist heißt Cowboy und glaubt als Quantenaktivist an den Weltatem. Mitten in Kreuzberg will er selbst gemachtes Freischwingerwasser verkaufen. An seiner Seite steht Jan Böhmermanns Olli Schulz als Zeremonienmeister Hype: »Der Typ ist einfach nur irre. Der wird die Welt verändern.«

Zwischen rotem Teppich und Sozialamt

Ein Seitenblick auf die Musikbranche bestätigt, dass Labels für die deutsche Filmlandschaft erfolgversprechend sein könnten. Mit Livekonzerten und Downloads verdienen musikalische Indies heute ihr Geld. Die filmischen Indies sind überwiegend auf Festivals, in Offspielstätten und via Internetstreams zu finden. Wäre es nicht eine logische Konsequenz, diese Plattformen zu stärken und ihnen eine größere kommerzielle Bedeutung im Verwertungssystem beizumessen? Solange im Filmfördergesetz jedoch eine Kinosperrfrist von sechs Monaten verankert und beim Deutschen Filmförderfond DFFF eine Kinoauswertung verpflichtende Fördervoraussetzung ist (inzwischen sind die Verleiher häufig schon vor Drehbeginn mit im Boot), wird sich für den deutschen Independent-Film nichts verändern. Die Kluft wird zusehends größer. Und die Armut der Filmemacher nimmt zu, ihr Leben spielt sich zwischen rotem Teppich und Sozialamt ab. Vom Fernsehen gekauft werden fertiggestellte unabhängige Produktionen übrigens selten. Selbst der offensichtlich quotenfreundliche Dokumentarfilm Klitschko war für die zuständigen Redaktionen uninteressant, nachdem er ohne Senderbeteiligung realisiert worden war.

Filmfestivals: Hier sind sie zu Hause

Deutsches Independent-Kino spielt sich fast nur noch auf Festivals ab, denen dabei eine besonders wichtige Aufgabe zukommt: Bei 226 gestarteten deutschen Filmen im Jahr 2015 (also vier bis fünf deutschen Kinostarts pro Woche) ist das Kuratieren, das gekonnte Filmauswählen und -präsentieren, die große Herausforderung. Programmmacher und Festivalleiter entscheiden über die gezeigten Filme und ernten mit ihrer handverlesenen Auswahl idealerweise das Vertrauen des Publikums. In Ludwigshafen etwa besuchten im vergangenen Jahr innerhalb von drei Wochen 122 000 Menschen das Festival des deutschen Films. Ein deutscher Indie-Film kann alleine im Ludwigshafener Wettbewerb in vier Vorstellungen insgesamt 4 000 Besucher verzeichnen. Und eines sei gesagt: Wer den Erfolg von Filmfestivals ausschließlich an ihrem Eventcharakter festmacht, denkt zu kurz. Es gibt ein Bedürfnis des Publikums, die qualitativ besten Filme aus der aktuellen Fülle zusammengestellt zu bekommen – und danach über das Gesehene zu sprechen. Selbst Cineasten verlieren inzwischen den Überblick und verpassen Filme. Nach Kinostart dauert es ein bis zwei Wochen, dann verschwinden die meisten wieder. Zu früh für jede Form von Mundpropaganda. Kaum ein Kinomacher kann es sich in digitalen Zeiten und unter Finanzdruck noch leisten, über mehrere Wochen auf einen schlecht gestarteten Indie zu setzen und an dessen mittelfristigen Erfolg zu glauben. Deutsche Independent-Filme gehen im Kino unter. Beim Festival erhalten sie die große Bühne.

War es noch vor wenigen Jahren üblich, ein Jahr oder länger mit einem Film über die bundesdeutschen Festivals zu tingeln und für positive Presse zu sorgen, ist aufgrund der Auszahlungsregeln des DFFF inzwischen häufig ein möglichst zeitnaher Kinostart nach der Uraufführung geplant. Denn: Erst nach Kinostart fließt das Geld. Ein Irrweg. Indie-Filme brauchen mehr Festivals. Eine deutliche Stärkung der Filmfestivals in Deutschland als einer kommerziellen Auswertungsmöglichkeit wäre zentrale Voraussetzung für den Erhalt der Independent-Kultur.

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