arte: Schöner fernsehen
»Die Diebin von Saint-Lubin« (1999)
Er zeigt Stummfilme, Kurzfilme und fördert auch Autorenfilme: Seit 25 Jahren strahlt der deutsch-französische Fernsehsender arte ein ambitioniertes Programm aus
Es herrscht kein Mangel an Alleinstellungsmerkmalen. Dieser Fernsehsender ist praktisch der einzige, der Schwarz-Weiß-Filme noch zur besten Sendezeit ausstrahlt. Es geniert ihn nicht, auf die Filmgeschichte zurückzublicken. Er hält das Stummfilmerbe lebendig, wenn auch seltener als früher, dafür aber mit einer Musikbegleitung, die es frisch und gegenwärtig wirken lässt. Im Gegenzug verschafft er Tendenzen des Gegenwartskinos eine Sichtbarkeit, die sie sich im Angebot der Multiplexe längst nicht mehr erstreiten können.
Manchmal macht er auch nur einfach das, was einst zur Grundversorgung der öffentlich-rechtlichen Sender gehörte: Er ändert das Programm, um bedeutende Künstler zu ehren, die gerade verstorben sind. Selbst in Frankreich, wo es andere, exzellente Kinokanäle im Kabel- und Bezahlfernsehen gibt, nimmt arte eine Sonderstellung ein. Gewiss, die Filmdokumentationen leiden zusehends unter Popularisierungszwang. Aber nirgendwo ist der Spielfilm so präsent. Und er wird es immer häufiger. 2003 zeigte der Sender rund 500 Kinofilme, zehn Jahre später waren es über 700. Ist der Kanal, der am letzten Tag vor der Wiedervereinigung auf Sendung ging, nicht ein Geschenk für die Filmkultur?
Filmförderung mit anderen Mitteln
Bekanntlich ging arte auf den gemeinsamen Wunsch von Francois Mitterrand und Helmut Kohl zurück, die Verbundenheit der einst verfeindeten Nachbarn durch die Schaffung einer deutsch-französischen Fernsehanstalt zu demonstrieren. Der Name des Kanals zeigt freilich schon, wessen Wunsch die größere Durchsetzungskraft hatte: arte steht für das bürokratische Ungetüm »Association relative à la Télévision Européenne« (Zusammenschluss bezüglich des europäischen Fernsehens). Nicht nur bei der Namensgebung hat Frankreich die Vorherrschaft beansprucht, auch bei der thematischen und cinéphilen Ausrichtung. »Arte ist eben überhaupt ein Politikum«, meint der deutsche Regisseur Christoph Hochhäusler, »das die Franzosen ganz klar und selbstverständlich dominieren.«
Das hat unmittelbare kulturpolitische Ursachen und Konsequenzen. Der Mitte der 1980er Jahre lancierte Bezahlsender Canal plus war der sozialistischen Regierung unter Mitterrand wenig geheuer. Sie wollte ein Gegengewicht zu dem vermeintlichen »Sender der Reichen« schaffen. Der französische Staatspräsident beauftragte seinen Vertrauten Jérôme Clément, der damals die Filmförderanstalt CNC leitete, das Konzept für einen öffentlich-rechtlichen Kulturkanal zu entwerfen. Nicht nur Clément, der nachmalige Präsident des Senders, kam vom CNC. Auch Veronique Cayla, die jetzige Präsidentin von Arte France, leitete einmal die Filmförderung. Der Präsident der Mitgliederversammlung wiederum ist Nicholas Seydoux, dem seit den 1970ern der Konzern Gaumont gehört und naturgemäß die Interessen der französischen Filmwirtschaft besonders am Herzen liegen.
Das Gesetz der Serie
Es kommt höchst selten vor, dass ein Fernsehredakteur mit einer Retrospektive im Kino gewürdigt wird. In diesem Frühjahr richtete die Cinémathèque française eine Hommage an Pierre Chevalier aus, der als Verantwortlicher Redakteur im Bereich »Fiktion« ab September 1991 rund 300 Filme lancierte. Zuvor war er beim CNC für die Förderung von Kurz- und Langfilmen zuständig. Im Herbst 1991 gab es zwar schon ein Budget für die Programmsparte, aber noch kein Konzept. Ursprünglich sollte das Profil des Senders thematisch ausgerichtet sein und vor allem Dokumentationen ausstrahlen.
Die Ära Chevalier gilt in Frankreich nach wie vor als das Goldene Zeitalter des Senders. Der Kinobesuch war zu Beginn der 1990er Jahre in Frankreich rapide zurückgegangen. Chevalier erwarb sich große Meriten bei der Wiederbelebung des französischen Autorenfilms, indem er bedeutende Regisseure überzeugte, erstmals fürs Fernsehen zu arbeiten, darunter Chantal Akerman, Olivier Assayas, Claire Denis und André Téchiné. Nicht von ungefähr war die Filmreihe der Cinémathèque »L’âge des possibles« betitelt, das Zeitalter der Möglichkeiten; in Anlehnung an den gleichnamigen Film von Pascale Ferran, den Chevalier mitproduzierte. Er verstand sich nicht primär als Kinoproduzent, da sein ökonomischer Spielraum begrenzt war. Aber vor allem von den Themenreihen, die er aus der Taufe hob, gingen wichtige Impulse für das europäische Kino aus. Sie verraten den Ehrgeiz, die Grenzen zwischen Kino- und Fernsehästhetik aufzuheben.
Während andere Sender üblicherweise einen Produzenten kontaktieren, der dann Autoren und Regisseure verpflichtet, kehrte Chevalier den Prozess der Stoffentwicklung um. Seine Themenreihen kreisen um Jugend und Schulzeit, Geschlechterverhältnisse, die Arbeitswelt (hierfür drehte Laurent Cantet seinen ersten bedeutenden Langfilm Ressources humaines) oder den Millenniumswechsel; ein Glanzstück der Serie »Terres étrangères« ist »Beau travail« (Der Fremdenlegionär) von Claire Denis; im Zyklus »Petits caméras« experimentierten Regisseure wie Claude Miller mit Digitalkameras. Chevalier nannte sie freilich nicht Reihen, sondern »colléctions«. Das klingt vieldeutiger, da schwingt etwas von Liebhaberei mit, vom Wunsch nach Vollständigkeit. Ein Sammler ist meist ein Kenner, nicht selten ein großzügiger Mäzen. Die Regisseurin Claire Devers arbeitete mit Chevalier unter anderem bei »Die Diebin von Saint-Lubin« zusammen. Sie erinnert sich: »Pierre hat großen Respekt vor der Autorenschaft und dem Eigenwillen der Filmemacher. Ich habe das Gefühl, dass ich mich bei ihm an viel ausgefallenere, experimentellere Themen heranwagen kann.« Von diesem Respekt profitierten auch junge Regisseure wie Cédric Klapisch, der mit Chevaliers Hilfe seinen ersten Langfilm drehen konnte. Für gestandene Filmemacher entsprachen die Auftragsarbeiten vielleicht ein wenig dem, was Erzählungen für einen Romancier sind: Lockerungsübungen.
Chevaliers Abteilung stellte regelmäßig die Frage nach dem Platz des Politischen im französischen Kino. Die politische Geografie schreibt sich in den Titel einer Reihe ein, für die Chevalier sechs Regisseure (darunter Devers, Tonie Marshall und Erick Zonca) einlud, zu überprüfen, was politische Überzeugungen und Engagement aktuell gelten: »Gauche/Droite«, Links/Rechts. »Es traf sich«, berichtet Devers, »dass wir damals gerade auf die Straße gingen, um für das Bleiberecht der sans papiers zu streiten. Das war also ein Thema, das in der Luft lag. Es gab nur zwei Vorgaben: Es sollte eine Szene geben, in der der Titel der Reihe angesprochen wird, und wir sollten den Rahmen eines Genres wählen.«
Das Goldene Zeitalter ist nicht vorüber
Chevalier blickte bald über den französischen und europäischen Tellerrand hinaus. Arte produzierte Filme von Tsai Ming-liang, Walter Salles und Abderrahmane Sissako mit. Das afrikanische Kino würde ohne den Sender vielleicht gar nicht mehr existieren. Diese internationale Ausrichtung ist einzigartig unter deutschen Fernsehsendern, wie Redaktionsleiter Andreas Schreitmüller betont: »Das bedeutet, dass wir sehr viele deutsche Spielfilme dem französischen Publikum präsentieren und französische Filme dem deutschen. Aber etwa ein Drittel der von uns koproduziertem Filme stammen aus anderen Ländern wie Israel, Norwegen, Russland, Chile, Iran oder Mauretanien. Wir haben ein Netzwerk aufgebaut, durch das wir frühzeitig Projektideen aus der ganzen Welt erhalten«.
Schreitmüllers Redaktion hat sich in Deutschland als ein unverzichtbarer Partner für Produzenten und Regisseure etabliert. »Wir unterstützen ihn (oder sie) bei der Suche nach weiteren Financiers, diskutieren mit den Autoren das Drehbuch, tragen gegebenenfalls Ideen zum Casting bei und schauen uns oft mehrere Schnittfassungen an«, erklärt er. Nach Christoph Hochhäuslers Einschätzung ist sie entschieden cinéphiler als die Redaktionen anderer öffentlich-rechtlicher Sender. »Ich habe bei »Unter dir die Stadt« und »Die Lügen der Sieger« mit arte zu tun gehabt«, berichtet er von seinen Erfahrungen bei der Drehbuchentwicklung, »und die Zusammenarbeit sehr angenehm gefunden, weil sie – was selten ist – auf Augenhöhe stattgefunden hat und Argumente für oder gegen bestimmte künstlerische Entscheidungen willkommen waren.«
Mit Olivier Père hat die deutsche Seite einen neuen, offeneren Partner gefunden. Père arbeitete in der Cinémathèque française, dann leitete er die Cannes-Sektion »Quinzaine des réalisateurs« und das Festival von Locarno. »Im Festivalbetrieb bin ich oft zum Vertrauten von Filmemachern geworden, die mir ihre Schwierigkeiten bei der Finanzierung schilderten«, erläutert er, »Dabei habe ich gespürt, wie viel Respekt arte in der Branche für die Unterstützung des Autorenfilms entgegengebracht wird.«
In enger deutsch-französischer Partnerschaft koproduziert der Sender rund 50 Spielfilme im Jahr sowie ein kleineres Kontingent an Dokumentar - und Animationsfilmen; allein in Cannes liefen gerade 24 arte-Koproduktionen. Für Autorenfilme kann der Beitrag des Senders lebenswichtig sein, Großproduktionen muss er nicht unterstützen. »Auf bestimmte Themen festgelegt sind wir nicht«, betont Schreitmüller, »was zählt, sind Qualität und Originalität des Stoffs und erzählerischer Mut, wir wollen mit den Filmen überraschen, vielleicht sogar irritieren, keinesfalls Vorurteile und Klischees reproduzieren.« Sofern die Neugierde, anspruchsvolle, eigenwillige und lebhafte Filme auf die große Leinwand und den Bildschirm zu bringen, nicht erlischt, werden vielleicht auch die nächsten 25 Jahre ein Goldenes Zeitalter.
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