Agnès Varda: Nouvelle imagination
»Augenblicke: Gesichter einer Reise« (2017). © Weltkino
Agnès Varda hat sich zum Neunzigsten selbst einen wundervollen Film geschenkt. Marli Feldvoß gratuliert einer Regisseurin, die seit Jahrzehnten an ihrer ganz eigenen Filmsprache gearbeitet hat: experimentell, poetisch, auf der Grenze von Fiktion und Dokument
Ich glaube ganz ernsthaft, dass meine Fantasie von der Wirklichkeit gespeist wird. Ich benutze das Imaginäre nicht, um der Realität zu entkommen. Mir kommt es so vor, als ob ich meine Ideen in der Realität finde. Ich bin also ein bisschen wie diese Frauen, die Muster stricken – eins rechts, eins links. Mir scheint, dass dieses Kommen und Gehen von Nachdenken, Ideen, Vorstellung und Filmarbeit zwischen dem Wahren und dem Nicht-Wahren für mich den Reiz des Lebens ausmacht. Wenn man Kino macht, muss man das Leben neu erfinden.«(Agnès Varda)
Da steht sie ganz allein am Strand, eine kleine alte Frau, die sich mit vorsichtigen Schritten im Rückwärtsgang bewegt und, direkt zum Zuschauer gewandt, erklärt: »Ich spiele die Rolle einer kleinen geschwätzigen Alten, die ihr Leben erzählt, aber eigentlich sind es die anderen, die mich interessieren.« Agnès Varda tritt hier zum ersten Mal als Filmerzählerin »vor« die Kamera, eine selbstbewusste Selbstdarstellerin, die sich wieder einmal neu erfunden hat. Ein paar Meter weiter, nah an der Brandung, hat sie ein zusammengewürfeltes Spiegelkabinett aufgebaut und philosophiert »auf ihre Art« über die Vergänglichkeit des Lebens. Zeigt damit aber auch, wie sie sich so ein Selbstporträt eigentlich vorstellt. Wie das Meer mit einem Handstreich jedes zufällig erhaschte Spiegelbild wieder weglöschen kann, wie in Bruchstücken von Sekunden Eindrücke des Lebens zwar eingefangen, aber doch nie dauerhaft festgehalten werden können. Agnès Varda, lange »Großmutter der Nouvelle Vague« genannt (aber stimmt das überhaupt?), hat sich ihren Erinnerungsfilm »Les plages d'Agnès« (Die Strände von Agnès) zum 80. Geburtstag am 30. Mai 2008 selbst zum Geschenk gemacht.
Jetzt hat sie es wieder getan. Pünktlich zum 90. kommt ihr neuer Film »Visages, villages« (Augenblicke: Gesichter einer Reise) ins Kino, zumindest bei uns. Wieder ein kinematographisches Selbstporträt, ein essayistisches Roadmovie, wie übrigens schon der erste Teil der biografischen Trilogie, »Les glaneurs et la glaneuse« (Die Sammler und die Sammlerin, 2000), seit Varda mit ihrer Mini-Digi-Kamera ausgerüstet ist. Aber dieses, das dritte Mal ist sie nicht allein unterwegs, sondern hat sich mit dem fast sechzig Jahre jüngeren, etwas geheimnistuerischen französischen Streetart-Künstler mit Namen JR zusammengetan. Zum ersten Mal erhielt sie dafür eine Oscarnominierung und einen Ehrenoscar, der ebenfalls zum ersten Mal an eine Regisseurin verliehen wurde. Sie nimmt es gut gelaunt und legt ein Tänzchen mit Angelina Jolie aufs Parkett, ganz nach Varda-Art. Die Film- und Fotokünstlerin Agnès Varda hat sich, gezwungenermaßen, schon lange darin geübt, sich selbst ins Gespräch zu bringen. Mit Reisen, Auftritten, Ausstellungen, Installationen erinnert die Unermüdliche an sich, ihr Werk und an ihren 1990 früh verstorbenen Mann, den Filmemacher Jacques Demy. Auch das erste, ausgesprochen schöne Buch über ihr Werk »Varda par Agnès« hat sie 1994 selbst herausgebracht.
Es stimmt in vieler Hinsicht, dass sich Agnès Varda in ihrem langen Künstlerleben immer wieder neu erfunden hat. In radikalen Umschwüngen. Aus heiterem Himmel beschloss die gelernte Fotografin, die sich als Hausfotografin des Théâtre Nationale Populaire (TNP) von Jean Vilar einen Namen gemacht hatte, aber selten ins Kino ging, Filmemacherin zu werden. Mit 26 fuhr die am 30. Mai 1928 in Brüssel geborene Arlette Varda (mit 19 änderte sie ihren Vornamen) mit einer geliehenen 16mm-Kamera gen Süden, investierte ihr schmales Erbe und drehte mit ein paar Freunden ihren ersten Film »La Pointe Courte«. In einem Fischerdorf in der Nähe von Sète, wohin sich ihre Familie einmal vor den Deutschen geflüchtet hatte. Den Schnitt vertraute sie einem gefragten jungen Cutter an: Alain Resnais.
Dass Agnès Varda mit »La Pointe Courte« (1954/55) den ersten Film der Nouvelle Vague überhaupt drehen sollte, hat erst die Filmgeschichte so richtig zutage gebracht. Mit ihrem von der Literatur inspirierten »alternierenden Erzählstil«, der Parallelführung zweier einander kommentierender Handlungsstränge – im Wechsel Dokument und Fiktion – erregte sie so viel Aufsehen, dass Filmguru André Bazin sie samt Filmdosen sofort nach Cannes losschickte. Auch François Truffaut, damals noch Filmkritiker, zeigte sich von ihrem »ambitionierten und experimentellen filmischen Essay« beeindruckt. Aber danach blieben »die Jungs« doch lieber unter sich.
Realität oder Spiel?
Mit den Spielszenen einer Ehe, alternierend mit den à la Neorealismus gefilmten Beobachtungen aus dem Fischerdorf, zeigte Agnès Varda, dass es ihr um eine eigene Filmsprache ging, um ihre Cinécriture, wie sie es später formulierte, eine Arbeitsmethode, die ohne klassisches Drehbuch auskommt. Die großen Fragen der kleinen Agnès lauteten von Anfang an: Wie verbinde ich Dokument und Fiktion? Wie gehen das Wahre und das Falsche zusammen? Wo hört die Realität auf? Wo fängt die Fiktion an? Es ging ihr nie um die Reproduktion des Realen, sondern um Interpretation: der äußeren Wirklichkeit, der individuellen Erfahrung, der kulturellen Einflüsse. Varda setzte sich stets mit dem »Blick« im Kino auseinander, indem sie neue Erzählstrategien ausprobierte und mit essayistischen Formen experimentierte, um den Erzählstrom zu fragmentieren oder in kontrapunktisch angelegte Episoden zu unterteilen. Gleichgesinnte fand sie in der Gruppe Rive Gauche, einer Filmavantgarde, die sozialistischen Anspruch und poetischen Formalismus zu verbinden suchte. Sie hießen Alain Resnais, Chris Marker, William Klein, die »Humanisten des Kinos«, die sich gegen das »moderne bürgerliche Ethos« der Viererbande Chabrol, Godard, Rivette, Truffaut verschworen. Mit Chris Marker blieb Varda ein Leben lang befreundet.
Ein erster Meilenstein: »L'Opéra-Mouffe« (1958) – einer der frühen Kurzfilme Vardas, der von den Gefühlsschwankungen einer schwangeren Frau erzählt. Varda – selbst schwanger – zeigt in diesem »subjektiven Dokumentarfilm« schon ihr ganzes Programm. Ein Filmgedicht ohne Worte, das zwischen dem realen Leben der Clochards auf der Straße und dem verklärten Blick einer Schwangeren pendelt. Bilder zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen dem Bildschönen und dem Abgrundhässlichen – ein Balanceakt zwischen Widersprüchen. Varda wird auch das Experiment der Wechselstruktur aus »La Pointe Courte« vielfach variieren, später in Form von Doppelfilmen weiterspinnen. In Los Angeles entstanden »Mur Murs« (1980), ein Spielfilm, der lügt, und sein sogenannter Schattenfilm »Documenteur« (1980/81), ein Dokumentarfilm, der lügt. Die flüsternden Wände von Mur Murs scheinen lebendig zu werden und Zeugnis von Menschen aller Hautfarben abzulegen, die mit ihren Murals gegen die soziale Ausgrenzung aufbegehren. Hier ist zum ersten Mal Varda selbst als Erzählerin zu hören, eine sanfte wohltönende Stimme, die süchtig macht, wie ein Erzählton aus »1001 Nacht«.
Der Schlüsselsatz von Documenteur, »man weiß nicht so genau, ob die Kunst das Leben nachahmt oder das Leben die Kunst,« hört sich nach verzwicktem selbstreflexivem Kino an, mit bestechend schönen Einstellungen. Das spätere Duo »Jane B. par Agnès V.« und »Kung-Fu-Master« (1986/87), ein Doppelporträt, eröffnet der ewigen Muse Jane Birkin ungeahnte neue Spielräume, aber letztlich wird das Rätsel »Realität oder Spiel?« nie ganz aufgelöst. Die symmetrischen Effekte wurden zum Erkennungszeichen der Künstlerin; es war und blieb ihre wichtigste Strategie, um gegen die angebliche Logik des linearen Erzählkinos anzukämpfen. Das Mitdenken des Zuschauers war dabei unverzichtbar. »Kopflastiges Kino« schimpfte der renommierte französische Filmkritiker und Filmhistoriker Jacques Siclier. Zehn Jahre später propagierte Alexander Kluge das »Kino im Kopf«.
Entspannter Feminismus
Die »Großmutter der Nouvelle Vague« hat sich ihren Ehrennamen erst so richtig mit ihrem ersten großen, in Schwarz-Weiß gedrehten Spielfilm »Cléo de cinq à sept« (Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7, 1961) verdient. Darin folgt Varda der selbstverliebten Schlagersängerin Cléo (Corinne Marchand), die auf das Ergebnis einer Krebsuntersuchung wartet, in einem Parcours quer durch Paris. Im Film, der in Echtzeit gedreht ist und in Kapitel à drei Minuten unterteilt ist, sind die Todesboten allgegenwärtig. Cléo landete sofort im Wettbewerb in Cannes und wurde ein großer Kinoerfolg. Er gilt heute als einer der ersten neuen Frauenfilme überhaupt, wenn er auch nicht als solcher konzipiert war. Als einen frühen Beitrag zum Komplex Gender Studies muss man auch Vardas weithin als »unmoralisch« missverstandenen Film »Le bonheur« (Das Glück, 1965) ansehen, der in Erzählstruktur und Farbwahl die rituelle Struktur der familialen und sexuellen Interaktionen in Paar und Familie herauskehrt. Beinahe eine Geschlechtersatire, inszeniert wie eine Illustration des Glücks aus Magazin und Werbung.
Mit ihrem sehr konstruiert wirkenden nächsten Spielfilm »Les créatures« (1966), der wie die vorausgegangenen in einer Doppelstruktur angelegt war, überforderte Varda erneut Kritik und Publikum. Sein Flop, trotz Starbesetzung mit Catherine Deneuve und Michel Piccoli, setzte dem ungewöhnlichen Aufstieg der ehrgeizigen Filmemacherin ein vorläufiges Ende.
Als die Nouvelle Vague Mitte der 60er Jahre zu Ende ging und das Kino wieder in die Krise kam, ging Agnès Varda mit Jacques Demy nach Hollywood, verpasste den Pariser Mai '68, hinterließ jedoch einen Sketch für den Kollektivfilm »Loin du Vietnam« (1967). Neben der Dokumentation über die »Black Panthers« (1968) gehört zu ihrer amerikanischen Produktion noch »Lions Love« (1969), wiederum ein Lügenspielfilm, der die Essenz des Hollywoodkinos auf die Schippe nimmt.
Nach einer langen Durststrecke folgte erst 1976 der erfolgreiche Spielfilm »L'une chante, l'autre pas« (Die eine singt, die andere nicht, 1976), notgedrungen selbst produziert. Dafür konnte Varda ungehindert ihr Doppelspiel weitertreiben, den Weg zweier Frauen verfolgen, alte Freundinnen, die sich 1976 nach vielen Jahren wiedertreffen, die eine als Sängerin, die andere als Beraterin in der Familienplanung. Varda hat zwar zeitnah den Frauenkampf um Selbstbestimmung, an dem sie auch aktiv beteiligt war, in eine Spielfilmhandlung gegossen, sie hat sich auch stets als feministisch bezeichnet, aber ein doch moderater Erzählton entsteht oft dadurch, dass die Form Vorrang vor dem Inhalt hat. »Ein militanter Film ohne militante Parolen«, schrieben die Cahiers du Cinéma; in feministischen Kreisen wurde das Werk als zu kompromissbereit abgelehnt.
Agnès Varda war bereits 57 Jahre alt, als sie sich mit ihrem unbestritten besten und bis heute erfolgreichsten Film »Sans toit ni loi« (Vogelfrei, 1985) wieder ganz neu erfand. Der Goldene Löwe in Venedig läutete den Beginn einer zweiten Karriere ein. Im Grunde variiert Varda auf sehr kunstvolle Weise das Thema ihres frühen Erfolgsfilms »Cléo de cinq à sept«. Anders als Cléo lehnt die freiheitsliebende Aussteigerin Mona (Sandrine Bonnaire) jedes soziale Verhalten, jede Selbsterkenntnis ab und ist in ihrer Verweigerungshaltung nicht zu retten. Ein analysierender, kühler Blick fällt auf die Figur, die im frostklaren südfranzösischen Winter per Anhalter unterwegs ist; er ist auch dem strengen Erzählkorsett geschuldet, das die Figur, jedes Wort, jeden Schritt, jede Begegnung, jeden Farbton mit Bedeutung auflädt, doch ihre Geschichte nur noch nach Zeugenaussagen rekonstruiert. Varda nennt ihren Film »das unmögliche Porträt einer Frau«.
Wie ein Solitär beschließt »Jacquot de Nantes« (1990), der Porträtfilm über Jacques Demy, eindeutig ein Liebesfilm, den Reigen der unvergesslichen Filme, die Varda-Verehrer und -Verehrerinnen ins Schwärmen versetzen. Ein Spielfilm in Schwarz-Weiß über Demys Jugend, mit einem Sprung ins knallbunte Technicolor und ins lautstarke Musical, wenn seine Spielfilme (die alle Kultstatus besitzen) in kurzen Ausschnitten zitiert werden. Es ist die Geschichte eines Kindes, »das sich in einer glücklichen Familie dafür gestritten und geschlagen hat, dass es Filmemacher werden durfte und nicht Automechaniker wie sein Vater«. Wieder ein Doppelspiel zwischen zwei Filmen – nur innerhalb eines einzigen Films. Wieder ein Film mit einem ausgeklügelten Erzählmuster, eins rechts, eins links, das seine Zeit braucht, dafür den Zuschauer mit reicher Beute belohnt. Dass Agnès Varda zu den ganz Großen gehört, kann man nicht oft genug sagen. Und wenn »Visages Villages« ihr Abschiedsfilm sein sollte, wünschen wir ihr, dass viel mehr von ihr bleiben wird als ein Plakat mit knubbeligen Zehen und schwächelnden Augen, das der Regen wieder abwäscht.
Vielen Dank für alles, Agnès!
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