Kritik zu Augenblicke: Gesichter einer Reise
Godard macht nicht auf: Die Filmemacherin Agnès Varda und der Streetartist JR begeben sich auf eine Reise durch ihre Heimat, erkunden Land und Leute und die Möglichkeiten der künstlerischen Zusammenarbeit verschiedener Generationen
Eine alte Dame und ein junger Mann reisen gemeinsam durchs Land und machen Kunst. Es ist eine Art von Kunst, die das Vorgefundene nutzt und die Ansässigen einbezieht. Unterwegs treffen die beiden Künstler Menschen bei der Arbeit und beim Müßiggang, sie kommen ins Gespräch, lernen die Leute und auch einander kennen. Mitunter sind sie zwar unterschiedlicher Meinung oder sogar einmal voneinander genervt, doch die Freude an der gemeinsamen Arbeit ist immer spürbar und teilt sich mit, nicht zuletzt aufgrund des aufgeschlossenen, sozialen Charakters ihrer Projekte. Die alte Dame ist die hoch angesehene französische Filmemacherin Agnès Varda, Essayfilmerin, Fotografin, Protagonistin der Nouvelle Vague, die am 30. Mai ihren neunzigsten Geburtstag feierte. Der junge Mann ist der 33-jährige französische Fotograf und gefeierte Streetart-Schaffende JR, der mit riesigen Schwarz-Weiß-Fotos arbeitet, bevorzugt Porträtaufnahmen, die er auf Wände im öffentlichen Raum affichiert. Zwei visuelle Künstler also, die unterschiedlichen Generationen angehören, die verschiedene Interessen haben und differierende Arbeitsweisen, die sich aber nichtsdestotrotz zusammentun, um ihren Blick auf die Welt miteinander zu teilen und dann mit der Welt zu teilen, was sie sehen. Es ist eine wunderbare Idee, die mit »Augenblicke: Gesichter einer Reise« ein anrührend lebensfreudiges Ergebnis zeitigte, das wiederum in einer Oscarnominierung als bester Dokumentarfilm resultierte.
In JRs verlässlichem Foto-Truck, der wie ein Pixi-Automat funktioniert – mit dem Unterschied allerdings, dass die Abzüge, die er ausspuckt, um ein Vielfaches größer sind –, durchquert das ungleiche, doch seelenverwandte Paar Frankreich von der Provence bis zur Normandie. Sie werden am Atlantik vom Wind verblasen und am Mittelmeer von der Sonne beschienen. Sie besuchen idyllische kleine Dörfer, verlassene Siedlungen, Höfe und Ställe, Felder, Wiesen und Strände. Und währenddessen machen sie eben Kunst. JR und seine Mitarbeiterinnen klettern auf Gerüsten herum und kleben Fotos auf Wände – einen mehrere Meter hohen Briefträger, eine reizend entspannte Kellnerin, ein uraltes Liebespaar, eine neugierige Ziege, Bergarbeiter aus der Vergangenheit. Auf Gruppenfotos in einer Unterführung begegnen einander die in verschiedenen Abteilungen und zu unterschiedlichen Zeiten arbeitenden Belegschaftsmitglieder einer Fabrik, in der Salzsäure hergestellt wird. Auf gigantischen Containertürmen verwandeln sich die Frauen der Hafenarbeiter von Le Havre in riesige Totemfiguren. Fische kreiseln auf einem Wasserturm, Vardas Augen und ihre Zehen unternehmen eine Reise per Güterzug. Schaulustige finden sich ein, Passanten kommentieren. Varda redet mit den Leuten, JR hat auch etwas zu sagen, gemeinsam kommt man weiter, und schnell wird aus der künstlerischen Intervention ein soziales Ereignis. Immer wieder auch spielt der Zufall mit und spült Unvorhergesehenes an: einen Glöckner, der bereits in dritter Generation durch den Glockenturm der Kirche wirbelt, oder den Lebenskünstler Pony, der aus Kronkorken Bilder schafft und sich einen glücklichen Menschen schätzt. Sie begleiten einen Bauern, der ganz allein 800 Hektar Land bewirtschaftet und der von der modernen Technik schwärmt, die ihm dies ermöglicht. Sie besuchen den winzigen Friedhof, auf dem der große Fotograf Cartier-Bresson begraben liegt. Sie schauen bei JRs hundertjähriger Großmutter vorbei. Wem sie nicht begegnen, ist Vardas langjähriger Freund Jean-Luc, der Weise vom Genfer See, der die Tür nicht öffnet – aber das ist möglicherweise auch eine Finte, damit JR seine von Agnès so ungelittene Sonnenbrille endlich doch noch und wenigstens einmal kurz abnimmt. Wovon das Publikum nicht viel hat, denn an dieser Stelle nimmt die Kamera die Perspektive Vardas ein, deren Augen nur noch unscharf sehen. Was aber weiter nicht ins Gewicht fällt, weil der Blick, den sie wirft, ein so liebevoller ist. Und weil JR dafür sorgt, dass sich das mitteilt.
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