Kritik zu Eine Erklärung für Alles

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Gábor Reisz gelingt mit einer Geschichte rund um eine misslungene Abiturprüfung ein packendes Porträt der polarisierten ungarischen Gesellschaft von heute. Bei den Filmfestspielen von Venedig 2023 erhielt er dafür den Hauptpreis der Sektion Orizzonti

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Eigentlich ist die mündliche Prüfung in Geschichte nur eine reine Formsache. Wenn man Name, Datum und Ereignis weiß, reicht das schon für die Note 4, heißt es – und damit hätte Ábel an seiner Schule in Budapest das Abitur bestanden. Nur zwei sind in elf Jahren durch die Prüfung gerasselt. Aber als Ábel im Jackett vor der Prüfungskommission steht, zu der auch sein Geschichtslehrer Jakab gehört, bringt er kein Wort heraus. Ist es ein Blackout? Oder hat er wirklich keine Ahnung? Ist es die Auflehnung eines 18-Jährigen gegen den ihm von seinen Eltern vorgezeichneten Weg? Das enthüllt Gábor Reisz bis zum Schluss nicht wirklich. Gelernt hat er davor jedenfalls nicht, denn: »Ábel ist verliebt«, wie einer der vielen pointierten Zwischentitel dieses Films verrät. 

Als Ábel in der Prüfung weiterhin schweigt, fragt ihn sein Geschichtslehrer: »Warum trägst du eine Ungarn-Kokarde?« Eine für Außenstehende unverfänglich erscheinende Frage – auf die Ábel auch keine Antwort weiß. Aber gleichzeitig auch eine hochpolitische: Die Ungarn tragen die Kokarde normalerweise am 3. März, dem Jahrestag der bürgerlichen Revolution von 1848, ansonsten ist sie Ausweis einer nationalistischen, rechten Haltung. Und diese Frage ist der Stein, der den Film ins Rollen bringt. Denn der liberale Jakab ist schon einmal mit György, dem rechtskonservativen Vater von Ábel, aneinandergeraten. Als Ábel beim Erzählen von der schlecht gelaufenen Prüfung zu Hause die Frage erwähnt, wittert der Vater politische Voreingenommenheit. Bald landet das Gerücht bei der Nachwuchsjournalistin Erika, die für eine konservative Zeitung arbeitet und ihre Chance wittert. Der Skandal ist in der Welt. 

Auf einmal lastet Druck auf einem Vorgang, der vorher Routine war. Man spürt ihn förmlich in den Ängsten des Direktors, der die Konsequenzen heraufbeschwört. Reisz hat seinen Film stilistisch zwar wie eine Reportage angelegt, mit beweglicher Handkamera und Reißschwenks von einem Protagonisten auf den anderen. Und dennoch funktioniert der Film auch als Lehrstück, als eine Parabel, die die verhärteten politischen Fronten der gegenwärtigen ungarischen Gesellschaft bis zum – übrigens überraschenden – Schluss hin offenlegt. Dass Erika nach ihrem Artikel ziemlich schnell in einem Ministerium landet, passt auch zu einem Lehrstück.

»Eine Erklärung für alles« ist ein Ensemblefilm, natürlich mit dem verstockten und spätpubertär wirkenden Àbel (Gáspár Adonyi-Walsh) im Zentrum; ihm gehören die unbefangensten und mit dokumentarischem Touch eingefangenen Momente des Films, wenn er mit seinen Freundinnen und Freunden unterwegs ist. Aber auch die anderen Figuren des Films wirken rund in ihrer Charakterzeichnung, haben Tiefe und gute wie schlechte Seiten und gleiten nie in eine Karikatur ab. Man könnte auch einwenden: zu gut ausgewogen. Der Lehrer Jakab (András Rusznák) wirkt, als er einen Augenzeugen des Aufstands von 1956 interviewt, durchaus besserwisserisch, aber er meistert die Situation sehr souverän, als ihm die Schülerin Janka, Ábels Angebetete, ihre Liebe gesteht. Und Ábels konservativer Vater György (István Znamenák), ein Architekt, kümmert sich durchaus rührend um den Haushalt, auch wenn er ein grantelnder alter Mann bleibt. 

Die Konfrontation zwischen ihm und Jakab in der Wohnung von Györgys Familie bildet den Höhepunkt des Films. Natürlich ist das ein Drehbuchkniff – kein vernünftiger Lehrer würde nach solch einem Skandal ausgerechnet die Eltern aufsuchen. Aber Reisz nutzt das zur Zuspitzung, zeigt, wie es in der ungarischen Gesellschaft brodelt, wie die Fetzen fliegen und wie verhärtet die Fronten sind. 

Welche Sprengkraft »Eine Erklärung für alles«, dieser Innenansicht des Orbán-Ungarn, innewohnt, lässt sich auch daran ermessen, dass die ungarische Filmförderung dem Film keine finanziellen Mittel zuerkannt hat. Reisz und seine Produzentin Júlia Berkes haben ihn mit einem Low-Budget-Etat von 100 000 Euro gestemmt. Und selbst die Festivalerfolge des Films blieben in den meisten – staatlich dirigierten – Medien in Ungarn unerwähnt.

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