Der Fluss des Lebens

Eines der köstlichen Probleme, vor das „Yi Yi“ sein Publikum stellt, ist die Frage, welcher Perspektive wir uns anvertrauen sollen. Die Auswahl ist groß und eigentlich versprechen in diesem wundersamen Mosaikfilm allesamt einen Reichtum an Entdeckungen und Erkenntnis. Yang-Yang, der achtjährige Sohn der Familie Jian, wäre für den Anfang kein schlechter Gewährsmann, um unseren Blick zu lenken.

Er ist ein munterer Weltenerkunder, der deren Rätseln auf den Grund geht. Gewitzt versucht er, die Ungerechtigkeit der Weltordnung zu korrigieren und deren Lücken zu füllen. Es stört ihn, dass die Menschen von der Wahrheit immer nur die Hälfte sehen. Nachdem er von seinem Vater einen Fotoapparat geschenkt bekommen hat, nimmt er dessen Hinterkopf auf, der diesem ja bislang immer verborgen blieb. Auch die Existenz der Fliegen im Hausflur versucht er fotografisch zu beglaubigen, was seinen ignoranten Lehrer dazu veranlasst, ihn als den “nächsten Antonioni” zu verhöhnen. Seine erfinderische Neugier ist freilich nicht zu entmutigen. “Später will ich den Leuten Dinge sagen, die sie nicht kennen”, verspricht der kleine Philosoph seiner Familie und dem Publikum. Nicht nur sein Name der verführt, in ihm ein kindliches Alter ego seines Regisseurs zu vermuten.

Edward Yang ist ein wenig aus dem Gesichtsfeld der Cinéphilie verschwunden, Das Berliner Zeughauskino erinnert ab morgen (25. 10) an ihn mit der Filmreihe „Taipei Stories“ (https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihe/taipei-stories/), die bis Anfang Dezember dauert. Hochkarätige Gäste sind eingeladen, um in Yangs Filme einzuführen, darunter seine Witwe Kaili Peng und Tony Rayns, der große Kenner des asiatischen Kinos. Es laufen alle seine Regiearbeiten (es sind wenige, er starb im Alter von nur 59 Jahren), eine Drehbucharbeit sowie eine Dokumentation, die Hirokazu Kore-eda über ihn und seinen Freund Hou Hsiao-Hsien gedreht hat, mit dem er zu den Protagonisten der taiwanesischen “Neuen Welle” gehörte. Yangs internationale (Festival-) Karriere begann in den 1980er Jahren, sein Ruhm in Cinéastenkreisen wurde spätestens mit dem Preis der Filmkritik in Locarno 1985 für „Taipei Story“ besiegelt. Im Jahr darauf wurde dort ebenfalls „The Terrorizers“ ausgezeichnet, der ganz anders ist, als sein Titel klingt. Hierzulande war er vor allem für „A brighter Summer Day“ (1991) bekannt, der unter dem Titel „Ein Sommer zum Verlieben“ in gekürzter Fassung früher in den Dritten Programmen kursierte, ebenso wie „Mahjong“, für den er 1996 in Berlin den Spezialpreis der Jury erhielt. Wie seinen Landsmann Hou beschäftigt auch Yang die Identitätskrise seiner Inselheimat, die zerrissen ist zwischen der prekären Beziehung zum Mutterland China, dem nachhaltigen Einfluss der japanischen Besatzer und dem Diktat der Globalisierung. Beiden Regisseuren ist ein Faible für die bedächtige, minutiöse Betrachtung familiärer Spannungen gemein, eine Dramaturgie der langsamen Zuspitzung, die oft in Gewalt und Tod kulminiert.

„Yi Yi“ von 2000 gehört zu meinen absoluten Lieblingsfilmen (ich glaube, ich habe ihn vor zwei Jahren auch auf meine Liste für „Sight and Sound“ gesetzt). Sein heiteres, melancholisches Einverständnis mit der Vielgestaltigkeit des Lebens bekundet er bereits in seiner Erzählstruktur. In vielstimmiger Harmonie erzählt der Ensemblefilm von den zentralen Etappen des Lebenszyklus‘; die Figuren besitzen jene kinohafte Doppelwertigkeit, die ihre Erfahrungen gleichermaßen individuell wie allgemeingültig erscheinen lassen. Dieses epische Erzählpensum absolviert er im Verlauf nur weniger Wochen, denn Geburt, Kindheit, erste Liebe, die Krise der Lebensmitte und der Tod werden von den drei Generationen der taiwanesischen Mittelstandsfamilie Jian repräsentiert. Eine Hochzeit und eine Beerdigung bilden den Rahmen dieser Saga. Der Schlaganfall der Großmutter, nach dem sie im Koma liegt, hält die Familie in einem Schwebezustand, der sie auf existenzielle Fragen zurückwirft. Die Ärzte haben den Familienmitgliedern geraten, mit der Großmutter zu sprechen, um deren Verbindung zum Leben aufrechtzuerhalten. Min-Min, die Mutter, wird sich in diesen Monologen der Ereignislosigkeit des eigenen Lebens und Empfindens bewusst, verfällt in tiefe Depressionen und sucht Beistand in einem Bergkloster. NJ fragt sich, ob er die Möglichkeiten seines Lebens wirklich genutzt hat; die unverhoffte Wiederbegegnung mit seiner Jugendliebe Sherry schürt die Hoffnung auf eine zweite Chance. Die Tochter Ting-Ting wiederum fühlt sich schuldig am Zustand der Großmutter; eine erste Liebeserfahrung wird ihre Vorstellungen von Gut und Böse, von Schuld und Reinheit gründlich durcheinander bringen. Yang begleitet die Familie mit dem unbestechlich aufmerksamen Blick eines Freundes, der darauf vertraut, dass ihre Sinnsuche redlich ist. Er erzählt mit solch gelassener, diskreter Könnerschaft, dass er entscheidende Ereignisse nicht einmal zeigen muss – eine Geburt, ein Selbstmordversuch, ein Mord in der Nachbarschaft -, so greifbar sind sie in den Reaktionen der Charaktere.

Der getragene Rhythmus seiner Film gestattet Yangs Figuren eine Muße und Besinnung, die ihnen der moderne taiwanesische Arbeitsalltag verweigert. In „Mahjong“ spürt er der spirituellen Leere nach, die seine Landsleute im Schlepptau des enormen ökonomischen Aufschwungs und hastigen Aufbruchs ins 21. Jahrhundert befallen hat. Den Bankrott eines solchen Lebensentwurfes fängt er in „Yi Yi“ in einem prägnanten Tableau ein, als er langsam über die prunkende, mit unzähligen Statussymbolen drapierte Wohnung der Neuvermählten schwenkt, während NJ im Bad seinen verschuldeten Schwager findet, der einen Selbstmordversuch begangen hat.

„Sie wollen Filme machen?“ fragt ein junger Zaungast in „A Brighter Summer Day“ einen Regisseur, der gerade seine Darstellerin als „ganz natürlich“ lobte. „Sie können ja nicht einmal echt von unecht unterscheiden!“ setzt der ungebetene Kritiker nach. Man mag (muss es aber nicht) in dem Jungen ein Sprachrohr seines Regisseurs sehen, für den die Aufrichtigkeit gegenüber dem Leben ein Grundprinzip ist. In der Tat kommt der Rhythmus seiner Filme dem des Lebens mitunter beglückend nahe. Yangs Spiel mit der filmischen Dauer eines Momentes verleiht den Geschehnissen das ihnen angemessene Gewicht, es unterstreicht die Befangenheit seiner Figuren, ihr Innehalten und Zögern. Er wahrt die Integrität eines jeweiligen Augenblicks, kein indiskreter Zwischenschnitt zerstört dessen emotionalen Bogen. Als NJ beispielsweise seiner Jugendliebe wieder begegnet, sieht man ihn nur in der Rückenansicht, der Blick ist ganz auf die gewinnende Lebhaftigkeit der Frau konzentriert; seine Reaktion kann man nur erahnen. Yang hält die Einstellung auch noch, nachdem sie sich verabschiedet hat, dann aber überraschend in den Bildausschnitt zurückkehrt, um ihn an die Verletzung zu erinnern, welche die Trennung ihr damals zugefügt hat. Noch immer weigert sich der Regisseur, auf NJs Reaktion zu schneiden; er wird sich einen ganzen Film dafür Zeit nehmen.

Die taktvolle Distanz, die Yang wahrt, erinnert mitunter an John Ford. Seine Weltsicht entfaltet sich vornehmlich in Halbnahen oder Totalen, die die Figuren in Bezug zueinander und zu ihrer Umgebung stellen. Das traditionelle Spannungsfeld der chinesischen Gesellschaft, den Widerspruch zwischen Individualität und Gemeinschaft, übersetzt er in eine rigorose Kadrierung, bei der Türrahmen und Fenster das Bild teilen und die Figuren isolieren, Spiegel fügen oft ein zusätzliches und stets bezeichnendes Bildsegment hinzu. Seine Kompositionen sind berückend welthaltig, denn er öffnet sie, in dem er Bewegungen und Geräusche aus dem Off ins Bild hineinströmen lässt. Bisweilen sind gleich mehrere Handlungsebenen in die Tiefe gestaffelt, die einander kommentieren und zugleich darauf beharren, dass der Fluss des Lebens nach der erzählten Geschichte weitergeht.

 

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