Nuri Bilge Ceylan – Ein Porträt
Nuri Bilge Ceylan am Set von »Auf trockenen Gräsern« (2023). © Nuri Bilge Ceylan
Nuri Bilge Ceylan ist der bekannteste türkische Auteur und Stammgast in Cannes. Nicht, dass er es jemals darauf abgesehen hätte. Seine langsamen, oft langen Filme spüren das Universelle im sehr konkreten Alltag seines Landes auf. Und erzählen von Männern, die ziemlich verschlossen sind
Nuri Bilge Ceylan lacht nicht oft. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Aber bei einer Frage musste er dann doch grinsen, an diesem Maivormittag 2023 auf einer Dachterrasse in Cannes, wo der türkische Regisseur seinen neuen Film »Auf trockenen Gräsern« im Wettbewerb des Festivals vorstellte. Der ist mit 197 Minuten noch etwas ausführlicher als seine auch nicht sehr knappen früheren Werke. Für ihn sei die Länge kein Thema, sagt er. »Meine Filme finden ohnehin nur ein kleines Publikum, selbst wenn sie kürzer wären. Tatsächlich waren meine längsten Filme sogar erfolgreicher.« Mit Epen jenseits der drei Stunden wie zuletzt »The Wild Pear Tree« und »Winterschlaf« ist er seit Jahren Stammgast an der Croisette, für Letzteres erhielt er vor zehn Jahren die Goldene Palme. International gilt NBC, wie ihn seine treue Anhängerschaft nennt, als wichtigster Autorenfilmer der Türkei.
Neun Langfilme hat Ceylan in knapp drei Jahrzehnten inszeniert und dabei eine ganz eigene Handschrift entwickelt, ästhetisch wie inhaltlich. Seine Wurzeln als Fotograf prägen seine Filme bis heute. Er arbeitet mit langen Einstellungen, in denen die ruhigen, ausdrucksstarken Bilder erst allmählich zu entziffern sind, die Zeit wichtiger ist als die Bewegung. Die Handlung besteht dabei aus meist alltäglichen Situationen und komplexen Charakterstudien, oft eingebettet in die kargen Landschaften und Wetterlagen Anatoliens. Im Frühwerk sehr wortkarg, werden seine Filme seit »Winterschlaf« dialoglastiger. So ist nicht nur ein sehr eigenes Universum entstanden, sondern auch ein Diskursraum, in dem Wertvorstellungen und Weltbilder immer wieder neu verhandelt werden, aufmerksamkeitsfordernd und inspirierend. Ceylan wertet dabei nicht, sondern überlässt es dem Publikum, ein Urteil zu fällen. Immer wieder geht es ihm um die verschiedenen Lebensentwürfe und Haltungen von Menschen in ländlichen Gebieten und Großstädten. Seine Filme sind Mikrokosmos und Porträt der türkischen Gesellschaft.
Mit »Auf trockenen Gräsern« schlägt er nun ein weiteres Kapitel in dieser andauernden Auseinandersetzung mit seiner Heimat auf. Eine Kleinstadt im winterlichen Ostanatolien. Über Monate liegt alles unter einer Schneedecke. An der örtlichen Schule leistet Samet (Deniz Celiloğlu) seinen Dienst als Kunstlehrer, sein viertes und hoffentlich letztes Jahr, bevor er seine Pflicht erfüllt hat und nach Istanbul zurückkehren kann. Einzig die begabte Schülerin Sevim (Ece Bağcı) ist ihm ein Lichtblick, und er fördert die 14-Jährige nach Gutdünken. Schon die ersten Bilder führen mitten hinein in die Ceylan-Welt, wenn Samet aus der Ferne durch die verschneite Landschaft stapft, Ausdruck seines freudlosen Ausharrens in der Provinz. In immer neuen Schichten legt Ceylan ethische und gesellschaftliche Konflikte frei, die in ausladenden, dabei dichten Dialogen verhandelt werden. Sein Protagonist ist nicht sympathisch, weder in der Art, wie er auf die Belästigungsvorwürfe von zwei Schülerinnen reagiert, noch in der Bekanntschaft mit der Lehrerin Nuray (Merve Dizdar), die ihm erst begehrenswert erscheint, als sich auch sein Kollege Kenan für sie interessiert. Wie sich ohnehin die Männer in Ceylans Diskurs-Epos aufgeklärt geben und doch beim kleinsten Widerstand als unreife und verunsicherte Kindsköpfe erweisen, die auf dem Status quo beharren.
»Auf trockenen Gräsern« basiert lose auf Tagebüchern und Notizen des 1986 geborenen Autors Akın Aksu, den Ceylan aus Çanakkale kennt, wo Aksu und dessen Vater zeitweise in der Nachbarschaft wohnten. Aksu hatte schon das Drehbuch zu Ceylans letztem Film »The Wild Pear Tree« mitverfasst, die Geschichte eines jungen Grundschullehrers, der in sein Heimatdorf zurückkehrt und von einem Leben als Schriftsteller träumt, aber keinen Verleger für sein Manuskript findet, zunehmend sozial isoliert durch die Gegend streift und sich in Gespräche über Gott und die Welt verwickelt. Nach diesem Film, der frei von seinen eigenen Erfahrungen inspiriert war, wurde Aksu als Lehrer nach Anatolien versetzt, wo er drei Jahre arbeitete und regelmäßig seine Gedanken und Erlebnisse aufschrieb. »Das gab er mir zu lesen und ich mochte es, aber ich zögerte, weil ich nicht schon wieder einen Film über einen Lehrer machen wollte«, erinnert sich Ceylan. »Einige Details gingen mir nicht aus dem Kopf, und ich fragte ihn, ob wir daran weiterarbeiten könnten. Das Skript wurde länger und länger, am Ende war es mehr als das Doppelte von »Winterschlaf«. Und wir haben viel mehr gedreht, als jetzt im Film ist. Die erste Schnittfassung hatte mehr als fünf Stunden.«
Wie in seinen beiden Filmen davor gibt es in »Auf trockenen Gräsern« deutlich mehr Dialoge als früher. »Das heißt nicht, dass ich das auch in Zukunft so tun werde. Aber einer der Gründe, diesen Film zu machen, war die Szene mit der Diskussion zwischen Samet und Nuray, bei der es um den Widerspruch zwischen Individualisten und Kollektivisten geht. Das ist in der türkischen Gesellschaft ein sehr wichtiges Thema. Künstlern etwa wird oft vorgeworfen, nicht politisch genug zu sein.« Er fühlt sich davon angesprochen. »Ich selbst bin ein individualistischer Mensch, ich spreche nicht über Politik, mich interessieren die politischen Diskurse nicht. Aber wenn man einen Film macht, muss man beide Seiten so stark wie möglich machen, um ihnen gerecht zu werden.«
In »Auf trockenen Gräsern« wird die aktuelle türkische Politik nicht explizit angesprochen, doch Ceylans eigene Haltung scheint in den Alltagsmomenten immer wieder durch. Etwa in einer Sequenz, in der es um hierarchische Strukturen an der Schule geht, wie miteinander gesprochen und wer gefördert wird. »Für Bürokraten sind Hierarchien sehr, sehr wichtig«, sagt der Filmemacher. »Es gibt ein ständiges Gerangel, wer wo auf der Rangleiter steht. Auch im Lehrerkollegium, mit dem Schulleiter an oberster Stelle. Was mich dabei interessiert, ist, wie die Figuren damit umgehen, ihren Platz verteidigen oder nach Höherem streben. Diese Art von Hierarchiedenken findet man überall, es beeinflusst jeden von uns, ob wir wollen oder nicht.«
Geboren 1959 in Istanbul, verbrachte Ceylan seine frühe Kindheit im Heimatort seines Vaters, Yenice in der Provinz Çanakkale im Nordwesten der Türkei. Kino war da schon wichtiger Teil des Aufwachsens, erinnert er sich. »Wir hatten keinen Fernseher. Es gab nur das lokale Kino im Ort. Und dort wechselte das Programm täglich. Meistens waren es türkische Filme, die Hollywood imitierten.« Sie haben ihn sehr geprägt, stellt er fest. »Ich und meine Freunde schauten uns diese Filme ganz genau an, klebten förmlich an der Leinwand. Sie hatten einen irren Effekt auf uns, nach jeder Vorstellung wollten wir so sein wie die Helden und Gangster, die wir gerade gesehen hatten.«
Mit zehn zog er mit seinen Eltern zurück nach Istanbul, wo er nach dem Abitur Chemie und später Elektrotechnik studierte. Zu der Zeit begann er auch zu fotografieren; in den 1980ern veröffentlichte er erste Arbeiten in Magazinen. Nach dem Militärdienst studierte er Film in Istanbul und London. 1993 stand er als Darsteller im Kurzfilm »Seviyorum Ergo Sum« von Mehmet Eryılmaz vor der Kamera – die kaufte er nach dem Dreh, um damit einen eigenen Kurzfilm zu drehen. »Koza« wurde 1995 zum Filmfest in Cannes eingeladen, als erster türkischer Short überhaupt.
Sein Langfilmdebüt »Kasaba – Die Kleinstadt«, mit 85 Minuten deutlich kürzer als alle Filme seitdem, lief 1998 im Forum der Berlinale und wurde mit dem Caligari-Preis ausgezeichnet. Bereits hier verhandelt Ceylan Themen und Figuren, die er in späteren Werken variiert und erweitert. »Kasaba« erzählt von drei Generationen einer Familie in der Provinz und ist der erste Teil einer Trilogie, zu der »Bedrängnis im Mai« (1999) und »Uzak – Weit« (2002) zählen. Ceylan setzt sich hier mit der im Osten gelegenen Region Anatolien auseinander – und landet mit »Uzak«, der von der Kritik bereits als Meisterwerk gefeiert wurde, in Istanbul, bei einem früher ambitionierten, nun desillusionierten, sich selbst und der Welt entfremdeten Fotografen, den der Besuch eines Verwandten aus der Provinz vollends aus der Bahn wirft. Zweifellos ein autobiografisches Koordinatensystem.
Bereits zuvor hatte Ceylan als Fotograf die Landschaften Anatoliens festgehalten, auch zusammen mit seiner Schwester Emine, einer bekannten Fotografin und bisweilen Co-Autorin. In seinem Frühwerk übernimmt Ceylan auch Kamera und Schnitt selbst, besetzt Laiendarsteller, oft Familienmitglieder. Seine Mutter steht in mehreren Werken vor der Kamera, die Drehbücher schreibt er zunächst mit seiner Schwester, später zusammen mit seiner Frau Ebru.
Als junger Mann, während seiner Armeezeit, hatte er Romane für sich entdeckt, vor allem russische Klassiker. »Wenn ich besser schreiben könnte, hätte ich die Schriftstellerei dem Filmemachen vorgezogen«, sagt Ceylan heute. »Aber ich tauge nicht dazu. Bis heute lese ich lieber, als ins Kino zu gehen. Bislang hat es kein Film je geschafft, mich so zu berühren, wie es Dostojewski oder Tschechow getan haben.« Autor oder auch Maler wäre er schon deswegen gern geworden, weil er eigentlich lieber allein arbeitet. »Deshalb hatte ich bei meinen ersten Filmen nur eine kleine Crew von fünf Leuten, nicht mehr. Ich habe von der Regie über die Kamera bis zum Schnitt fast alles selbst gemacht. Und trotzdem dauernd für alle anderen mitgedacht. Heute kümmert mich das nicht mehr so.«
Seine frühe Faszination für den Kontrast zwischen Stadt und Land erklärt er mit seinem Aufwachsen in beiden Welten. »Ich kenne beides sehr gut. Landleben, Stadtleben – und wie die Leute durch ihre Umgebung geprägt wurden. Mich interessieren allgemein Geschichten über Menschen, ganz egal, ob sie in einem Dorf in der tiefsten Provinz leben oder in einer Metropole wie Istanbul.« Inzwischen glaubt Ceylan nicht mehr, dass es noch große Gegensätze in Haltung und Vorstellungen der Bewohner gibt. »Heutzutage hat sich das durch die sozialen Medien sehr angeglichen. Nicht im Sinne, dass alle gleich denken, es gibt überall ganz unterschiedliche Charaktere und Ansichten. Aber sie lassen sich nicht einfach in urban = progressiv und ländlich = rückständig einteilen. Wenn ich Debatten online folge, bin ich oft selbst überrascht, wo jemand lebt. Die Unterschiede verschwinden.«
Immer wieder kreisen seine Filme um Themen von Herkunft und Heimat, Ankommen und Weggehen, das Gefühl, nicht zu Hause zu sein. Das Heim im Mittelpunkt von »Drei Affen«, für den Ceylan 2008 in Cannes den Regiepreis erhielt, droht auseinanderzubrechen, physisch und metaphorisch. In einer Mischung aus dokumentarisch anmutendem Naturalismus und zugleich hochästhetischen Bildkompositionen reflektiert Ceylan sozio-ökonomische Veränderungen und die sich wandelnde Rolle des Menschen. So ortsspezifisch seine Filme dabei sind, so allgemeingültig erscheinen sie in ihren Themen. Damit trifft er seit Jahren einen Nerv in seiner Heimat wie beim internationalen Publikum.
»Es war einmal in Anatolien« trägt die Region schon im Titel, in dem Film von 2011 wagt sich Ceylan dennoch auf neues Terrain. Denn der Titel erinnert zugleich an Sergio Leones Breitwandwestern »C'era una volta il west«. Mit Genreelementen erzählt Ceylan hier von der Suche nach einer vergrabenen Leiche in der türkischen Provinz; die erste Hälfte spielt in dunkler, allenfalls durch Scheinwerfer spärlich beleuchtete Nacht. Und der Film kreist dabei einmal mehr in flirrender Sperrigkeit um Fragen von Schuld und Verantwortung, ohne jedes Gut-Böse-Schema.
Für »Winterschlaf«, der lose auf Erzählungen Anton Tschechows basiert, erhält er 2014 die Goldene Palme in Cannes. Ceylan lässt sich viel Zeit für sein Porträt eines verschlafenen Dorfes in der bizarr anmutenden Höhlenlandschaft Kappadokiens, in dem sich einen Winter lang nicht viel zuträgt außer Streitgesprächen zwischen Aydın, seiner Frau Nihal und seiner geschiedenen Schwester Necla. Und je mehr die Kälte und die Abgeschiedenheit ihren Tribut fordern und auch die letzten Gäste ihres kleinen Hotels Reißaus nehmen, desto intensiver entflammen die Konflikte zwischen den dreien. Ein vieldeutiges Spiegelbild der Türkei, in dem sich die zunächst freundlich und weltgewandt gebende männliche Hauptfigur zunehmend als selbstgerechter Zyniker entpuppt.
Es ist auch Ceylans bislang erfolgreichster Film an der Kinokasse; in der Türkei lief »Winterschlaf« landesweit in Multiplexen, in Frankreich war er ein Arthouse-Hit. Als Erdogan, der damals Ministerpräsident war, dem Film zur Auszeichnung in Cannes gratulierte, widmete Ceylan den Preis der türkischen Jugend, den Menschen, die bei den Protesten im Gezi-Park 2013 ums Leben gekommen waren. Der sich in seinem Werk politisch zurückhaltende Regisseur fand auf der Bühne klare Worte: »Wäre es Japan, würde der Ministerpräsident zurücktreten. Aber nicht in der Türkei.«
In »Auf trockenen Gräsern« erstreckt sich manche Gesprächsszene über eine Viertelstunde, ohne langatmig zu werden, gerade das scheinbar Ausufernde entfaltet einen unmerklichen Sog. »Ich schneide jede Szene zunächst, wie sie mir gefällt. Und dann zeige ich sie meiner Frau, und meistens sagt sie mir: ›Mach sie kürzer.‹ Und ich widersetze mich dem dann, vielleicht auch nur aus Prinzip.« Er wolle das Publikum damit herausfordern. »Wenn eine Szene länger dauert, als wir es gewohnt sind, passiert etwas, das schwer zu beschreiben ist. Es öffnet einen neuen Denkraum. Das wird wahrscheinlich nicht für jeden funktionieren, aber man kann es mit einem Film nicht allen recht machen.«
Früher habe er oft reale Gespräche aufgezeichnet und Elemente davon übernommen, sagt Ceylan. »Das brauche ich heute nicht mehr, ich fühle mich als Autor sicher, weil ich weiß, dass ich ein gutes Ohr und ein gutes Gedächtnis habe.« Um diesen Naturalismus zu erreichen, feile er lange an den Dialogen, schreibe sie immer wieder um. »Auch beim Dreh probiere ich noch viel herum. Zunächst versuchen wir es streng nach Skript, dann experimentieren wir. Das ist gar nicht so leicht, denn je präziser die Dialoge sind, umso mehr Hemmungen haben die Schauspieler zu improvisieren.« Und er betont, wie wichtig in diesem Film nicht nur sei, was gesagt wird, sondern auch wie es gesagt wird. »Da gibt es viele Nuancen, die nur schwer zu übersetzen sind und nur im türkischen Original ganz verstanden werden.«
Bei diesen Diskursen nicht ins Thesenhafte abzugleiten, sei »das Schwierigste überhaupt«, erklärt Ceylan. »Wir haben zu dritt geschrieben, Akın Aksu, meine Frau Ebru und ich. Zunächst bauen wir das Skelett des Skripts und schreiben grob, was in jeder Szene passiert. Danach schreibt jeder getrennt voneinander Dialoge für eine Szene, die ich dann vergleiche und kombiniere. Oft ergibt sich auch erst im Schnitt ein organisches Ganzes. Es ist ein langer Prozess.« Dabei habe für ihn schon früh eine Szene festgestanden, die zum irritierenden Moment des Films wurde: Samet durchbricht die vierte Wand und tritt aus der filmischen Realität. »Die Idee hatte ich schon im ersten Monat. Ich erzählte Ebru und Akin davon, und sie meinten nur: ›Nein. Nein. Nein!‹ Also hielt ich meinen Mund. Nur meiner Regieassistentin sagte ich: ›Ich habe da noch was vor, stell dich mal darauf ein.‹ Wir drehten dann drei Varianten, ich wollte erst im Schnitt entscheiden, ob und wie ich die Szene verwende.« Die Frage nach dem Grund entlockt ihm erneut ein kurzes Lächeln. »Weil ich den Eindruck hatte, die Geschichte könnte etwas zu emotional werden und vom rationalen Denken ablenken. Dann ist es besser, im richtigen Moment kurz zu unterbrechen. Um dem Publikum seine Rolle als Zuschauer bewusst zu machen. Eine kleine anarchistische Disruption der Illusion.«
Bei aller Distanzierung bleibt die Frage, inwieweit sich Ceylan in seinen Figuren zumindest ein Stück weit selbst reflektiert. Gibt es womöglich Parallelen zwischen dem Filmemachen und der Rolle als Lehrer? »Ich will weder belehren noch predigen. Im Gegenteil, durch das Filmemachen versuche ich, selbst etwas zu lernen. Ich bin also allenfalls Schüler. Ich diktiere nichts, sondern zeige beide Seiten und lasse dem Publikum die Freiheit, sich eine eigene Meinung zu bilden.« Er habe auch gar nicht den Anspruch, mit seinen Filmen die Welt zu verändern, sagt er. »Sie sind eher ein Ruf aus der Einsamkeit, die ich in mir spüre. Filmemachen ist für mich wie Flaschenpost. Ich werfe einen Brief ins Meer, und vielleicht wird er irgendwo angeschwemmt, und dann liest ihn jemand. Vielleicht kommt er auch nie an, und es geht nur darum, etwas erschaffen zu haben.«
Er hält kurz inne, sein Blick schweift über die Dächer von Cannes. »Ich bin jemand, der sich immer fremd in dieser Welt fühlt. Schon in meiner Jugend, im Grunde seit ich denken kann. Früher war es noch schlimmer, ich war ein Eigenbrötler. Meine Gewohnheiten und meine Persönlichkeit kamen mir wie eine Krankheit vor. Erst das Filmemachen hat mir geholfen. Dadurch habe ich Gleichgesinnte gefunden, überall auf der Welt. Aber noch heute befürchte ich bei jedem Film, dass ihn niemand mögen wird. Und dann bin ich überrascht, wenn ihn jemand versteht, wenn jemand etwas dabei empfindet. Und das ist ein schönes Gefühl.« Aber der internationale Zuspruch helfe nur bedingt, sich weniger als Außenseiter zu fühlen. »Das Leben ist und bleibt für mich schwierig und letztlich sinnlos. Ist das pessimistisch? Ich nenne es realistisch. Ich versuche, durch Kunst einen Sinn in meinem Leben zu schaffen. Ein Gefühl herzustellen, wie ich es habe, wenn ich einen guten Roman lese. Das ist wie Therapie für mich.«
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