Die Filme des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan

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»Regisseur Nuri Bilge Ceylan«

Sei es die Kälte eines Schneewinters in Ostanatolien, die trockene Hitze eines Sommerurlaubs an der Westküste oder die melancholische Regenverhangenheit Istanbuls im Herbst: In den Filmen von Nuri Bilge Ceylan fühlt man das Wetter stets mit. Spätestens seit dem Gewinn des Jurypreises 2003 in Cannes für Uzak gilt der Filmemacher, der auch als Fotograf reüssiert, als eine der größten Entdeckungen des Arthouse- Kinos der letzten Zeit. Unser Autor Volker Hummel stellt das Werk dieses ungewöhnlichen Bildkomponisten vor

Der Name Atatürk kommt im Werk von Nuri Bilge Ceylan zweimal vor. In einer der ersten Szenen seines Spielfilmdebüts Kasaba (Die Kleinstadt, 1997) sieht man eine Schulklasse, wie sie vor einer Statue des Staatsgründers der modernen Türkei das tägliche Hohelied der Selbstaufopferung und unbedingten Treue zur Nation singt. Später im Klassenzimmer tragen die Kinder patriotische Passagen vor, die vom unvergänglichen Wert der Gemeinschaft, der Familie und der Solidarität handeln. Die Kinder sind brav, ruhig und melden sich, wenn der Lehrer fragt, wer als Nächstes vorlesen möchte. Draußen bedeckt der Schnee das Land. Es scheint Harmonie zu herrschen in der kleinen Stadt.

Doch während auf der Tonspur von Kasaba die Stimmen der Kinder vor sich hinmurmeln, registriert die Kamera von Ceylan eine Vielzahl von Sinneseindrücken, die ihre eigenen kleinen Geschichten erzählen. Mit den Augen der Kinder richtet sich der Blick nach draußen, zu den Bäumen im Hof, einer Katze am Fenster. Wegen eines merkwürdigen Geruchs lässt der Lehrer die Schüler ihre Pausenbrote auspacken, um an ihnen schnuppern zu können. Von den durchnässten Socken eines zu spät gekommenen Jungen fallen Tropfen auf den Ofen herab, ihr Zischen verdrängt auf der Tonspur den vorgelesenen Text. Die nackten Füße des Jungen. Eine durch den Raum schwebende Feder, die die Kinder pustend in der Luft halten, bis sie schließlich beim Lehrer landet. So wird man Zeuge eines Wunders, wie es selten in solcher Klarheit im Kino zu sehen ist: Eine Gemeinschaft ist entstanden.

Allerdings nicht so eine, wie sie in der pädagogischen Propaganda der Türkei beschworen wird. Durch die feine Kontrastierung von Ton- und Bildebene arbeitet Nuri Bilge Ceylan ganz unaufgeregt die Differenz zwischen den Ansprüchen einer Gesellschaft und den vielen Facetten einer Wirklichkeit heraus, die sich niemals unter einen ideologischen Hut bringen lassen. Indem er der einen Form von behaupteter Gesellschaft eine Absage erteilt, zeigt er zugleich, wie überhaupt, und wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, eine echte Gemeinschaft entstehen kann: durch die Teilhabe an einem Ort und seinen ganz konkreten Eigenheiten, seinen Geräuschen und Gerüchen, durch Gespräche, Blicke und das Spiel, das am Ende der Szene schließlich sogar den Lehrer einbindet.

Diese Gleichzeitigkeit von einer wie auch immer behaupteten, geahnten, ersehnten Harmonie und der Eigensinnigkeit der Dinge und Figuren ist vielleicht das zentrale Motiv im Werk Nuri Bilge Ceylans, dessen Entwicklung sich sehr genau nachvollziehen lässt, weil jeder Film auf die vorigen Bezug nimmt. Kasaba enthält fast alle Themen und Figuren, die später immer wieder auftauchen. Vor dem Hintergrund wechselnder Jahres- und Tageszeiten erzählt der Film von einer Schwester und ihrem kleinen Bruder. Nach der Schule durchstreifen sie die Natur, begegnen vielen Tieren und gelangen am Abend schließlich zu ihrer Familie, die im Rahmen eines Erntefestes draußen campiert. Neben den Großeltern  sitzen die Eltern und der ältere Cousin Saffet am Feuer, zwischen denen sich im Laufe der Nacht ein Gespräch entspinnt, das vom Gegenwärtigen in die fernste Vergangenheit reicht, vom Alltäglichen in zunehmend philosophische Bereiche. Während die Kinder zwischen Schlafen und Wachen schwanken, geht es bei den Erwachsenen um die bei Ceylan zentralen Fragen, auf die jede Figur eine andere oder überhaupt keine Antwort hat: Wie soll ich leben? Wo gehöre ich hin?

Die Familie spielt eine zentrale Rolle für Ceylan, sowohl thematisch als auch für seine Arbeitsweise. Für alle seine Filme bis Iklimler (Jahreszeiten, 2006) hat er Verwandte vor die Kamera geholt, seinen Vater Emin und seine Mutter Fatma, seinen Cousin M. Emin Toprak und seine Frau Ebru, mit der er in Iklimler gemeinsam ein entfremdetes Liebespaar verkörpert. Diese Besetzung erklärt Ceylan in Interviews gern mit der großen Vertrautheit, die es überflüssig macht, viele Worte zu sagen. Sprache ist für Ceylan meistens verdächtig, sie bringt Missverständnisse und Zwist in die Welt, so wie in der Lagerfeuerszene in Kasaba, in der die Figuren trotz ihrer großen Nähe sprachlich auseinanderdriften.

Vielleicht lässt sich diese Szene, in der drei Generationen einer Familie beieinandersitzen, nicht harmonisch, aber doch vereint, als der Punkt verstehen, von dem Ceylans spätere Filme sich wegbewegen, ein langsam expandierender und sich dabei abkühlender Filmkosmos, dessen Partikel sich immer weiter voneinander entfernen. Diese Bewegung führt vom Land in die Stadt, von der Familie zur Vereinzelung, von der Unschuld der Kindheit und der Simplizität des Alters in die Resignation und zu den Lebenslügen der mittleren Jahre. Und wie Ceylans zweiter Film Mayis sikintisi (Bedrängnis im Mai, 1999) zeigt, führt diese Bewegung vor allem in eine stärkere Ausdifferenzierung der Interessen seiner Figuren.

Der Film erzählt von einem Regisseur, der aus Istanbul in die Kleinstadt kommt, wo seine Eltern leben. Mit ihnen will er einen Film drehen, der große Ähnlichkeit mit Kasaba hat. Die dort in vielen Szenen zu spürende Nähe zur Natur, zu den Orten und Menschen, wird entlarvt als eine Konstruktion eines Filmemachers, der seine Familie ausnutzt. Alles, was an Kasaba authentisch wirkte und Intimität suggerierte, wird als Ergebnis einer manipulativen Arbeit gezeigt, die nichts lässt, wie es vorgefunden wird, sondern alles verändert und vorgibt, Worte, Tiere, Licht, Geräusche, den wieder auftauchenden Namen Atatürk.

Die zarten Bruchlinien, die sich schon in Kasaba durch die nicht mehr ganz heile Welt ziehen, haben sich in Mayis sikintisi zu klaffenden Rissen entwickelt, die die Figuren voneinander trennen. Wie bei seinem Vorbild Tschechow, dem er seinen zweiten Film gewidmet hat, geht es Ceylan um die Desillusionierung des Publikums durch die Offenlegung der Lebenslügen der Figuren. Dabei kommt der Regisseur am schlechtesten weg, wie überhaupt die Figur des Künstlers bei Ceylan eher kritisch gesehen wird. Das zeigt sich auch an seinem nächsten Film Uzak (2003), der eine Handlungslinie der beiden vorigen Filme fortführt, indem er die Figur des ewig unzufriedenen jungen Mannes Saffet, der jetzt Yusuf heißt und wieder von M. Emin Toprak gespielt  wird, in Istanbul bei seinem Cousin Mahmut unterkommen lässt. Der wird wie der Regisseur aus Mayis sikintisi von Muffat Özdemir gespielt, nur dass es sich diesmal um einen Fotografen handelt.

Gemeinsamkeiten haben die Cousins keine, in langen und präzise kadrierten Einstellungen breitet sich das Schweigen zwischen ihnen aus. Die beiden in ihrer Stummheit gefangenen Männer bilden zwei Pole im Werk Ceylans, zwei Haltungen, die immer wiederkehren und sich auch in der Biografie des 1959 in Istanbul geborenen Filmemachers wiederfinden lassen, der acht Jahre seiner Kindheit in einer Kleinstadt gelebt hat. Da ist zum einen die Sehnsucht nach dem Aufbruch in die Welt, der Traum des Landjungen von der großen Stadt, den Saffet/Yusuf verkörpert. Und da ist die Resignation und Melancholie des in Istanbul lebenden Künstlers, der sich in der Stadt genauso wenig zu Hause fühlt wie auf dem Land, und der sich in seiner Kunst eine Ersatzheimat zu schaffen versucht.

Diese beiden Figuren eint, wie eigentlich alle Männer bei Ceylan, dass sie immer unfertig erscheinen, nicht zu Ende geboren, uneins mit der Welt. Ihr Blick auf ihre Umgebung ist immer ein wenig unbeteiligt und grausam, wie der des kleinen Jungen aus Kasaba, der eine Schildkröte auf den Rücken dreht, eine Szene, die in einer Szene aus Mayis sikintisi wunderbar dekonstruiert wird, in der nicht der Junge, sondern der Regisseur mit der Schildkröte sein Spiel treibt. In Uzak findet sich dieser zwischen Faszination und Teilnahmslosigkeit schwankende Blick wieder in der Szene, in der Yusuf und Mahmut sprachund reglos einer Maus zuschauen, die sich auf einem Klebestreifen vor der Küche langsam zu Tode windet.

Szenen wie diese zeigen auch noch eine andere Gabe Ceylans, die eng mit der Melancholie und formalen Strenge seiner Werke verbunden ist, in deren Schatten sie aber häufig übersehen wird: seinen feinen, aber ausgeprägten Humor. Dieser entspringt einem tiefen Wissen um die Unbehaustheit seiner männlichen Figuren, die immer leicht neben der Spur sind und dank ihres Schweigens häufig in lächerliche Situationen geraten. Zu den humoristischen Highlights zählen in Uzak er jedoch Schnee modellieren: als Landschaft, als Leere, als Niederschlag, den man fast auf der Haut zu spüren scheint und der in den Momenten äußerster emotionaler Kälte fast für so etwas wie Wärme sorgt.

Der filmische Kosmos des Nuri Bilge Ceylan expandiert weiter, das zeigt auch sein neuester Film Drei Affen, für den er letztes Jahr in Cannes den Preis als bester Regisseur gewann. Anstelle von Verwandten stehen jetzt Profis vor der Kamera, statt Natur- herrschen Innenaufnahmen vor, die Erzählung mit ihrer Betonung von Schuld und bürgerlichen Lebenslügen ist etwas konventioneller geworden, es überwiegen jetzt Close-ups von Gesichtern, die ihre Geheimnisse nicht preisgeben. Alles ist neu im neuen Film von Nuri Bilge Ceylan und alles beim Alten. Das Universum breitet sich aus. Die Welt wird kälter. Die Menschen entfernen sich voneinander und schweigen.

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