Kritik zu The Wild Pear Tree
Nuri Bilge Ceylans Film über einen jungen Schriftsteller in spe und die schwierige Rückkehr in seine Heimatstadt in der Provinz lief bereits vor zwei Jahren in Cannes und war türkischer Kandidat für die Oscars
Es ist mythisches Gelände, in das uns der Film führt: Von der Hafenstadt Çanakkale, wo Sinan gerade sein Studium beendet hat, nimmt er den Bus in die gleichnamige Provinz, wo er aufgewachsen ist und auch Nuri Bilge Ceylan einen Teil seiner Kindheit verbrachte. Die Dardanellen markieren nicht nur den Übergang zwischen Europa und Asien, sie waren auch Schauplatz zweier großer Gemetzel der Geschichte: Während über das antike Troja nur spekuliert werden kann, sind die stummen Zeugen der Schlacht von Gallipoli – eine der blutigsten des Ersten Weltkriegs, in der Türkei als nationale Heldengeschichte gefeiert – allgegenwärtig. So wird Sinan von potenziellen Geldgebern für sein erstes Buch gefragt, ob es ein touristisches Werk sei, das sich mit den Soldatenfriedhöfen und Schlachtfeldern befasse. Sehr zum Frust des ambitionierten Autors, der zwar über seine Heimat geschrieben hat, aber einen poetischen »Meta-Roman«, dessen Titel wie der des Films lautet: »Der Wildbirnenbaum«.
Je genauer man hinschaut, umso vielfältiger und labyrinthischer werden die Metaphern, Verweise und Rückbezüglichkeiten, die Ceylan an seinem Wildbirnenbaum sprießen lässt. Und doch scheint er anfangs ganz geradlinig und einfach erzählt, und nur wie zufällig steht da ein Trojanisches Pferd herum. Ceylan schildert die Rückkehr des Protagonisten in seine ländliche Heimat, die Wiederbegegnung mit seiner Familie, die Streifzüge Sinans durch die Landschaft und die Begegnungen mit potenziellen Mäzenen und alten Bekannten in gewohnt ruhigem Stil, in sehr langen, teils auch sehr dialogreichen Episoden und sehr genau austarierten Bildern des Kameramanns Gökhan Tiryaki mit kräftigen Farben. Äußerlich geschieht wenig. Die herbstlichen Landschaften beherrschen manche Szene, bisweilen drängt sich das Rauschen des Windes in den Blättern in den Vordergrund – für die subtile Tongestaltung war wieder der deutsche Andreas Mücke Niesytka zuständig. Sparsam setzt Ceylan ein einziges Musikstück ein, Johann Sebastian Bachs Passacaglia.
Auf einer Länge von mehr als drei Stunden stellt das eine Herausforderung für den Betrachter dar, nicht zuletzt wegen der zunehmend bedrückender werdenden Atmosphäre. Eine tiefe Kluft zwischen Sinan und der Welt tut sich da auf, die Begegnungen sind konfliktreich. Existenzielle Entfremdung und Orientierungslosigkeit zeichnet die Menschen. Und die Hauptfigur ist nicht sehr sympathisch, bestenfalls ambivalent: Sinan, hervorragend besetzt mit Doğu Demirkol, den Ceylan angeblich auf Facebook entdeckt hat, ist nicht nur ein Grübler und Misanthrop, er legt eine Kälte und Überheblichkeit an den Tag, die selbst als Schutzhaltung eines unsicheren jungen Künstlers schwer zu entschuldigen ist – ein Möchtegern-Poète-maudit gegen den Rest der Welt.
Zunächst aber weiß er einfach nicht, wie es nach dem Studium weitergeht, sollte es mit der Literatur nicht klappen. Nur eine Prüfung steht noch aus, dann könnte er wie sein Vater Lehrer werden – oder Polizist, wie ein Schulfreund, der am Telefon vergnügt erzählt, wie seine Einheit linke Studenten verprügelt hat. Von seinen Eltern kann Sinan keine Unterstützung erwarten: Der Vater, ein sanfter, doch sturer Mensch, hat sich mit Pferdewetten verschuldet und nervt die Familie mit der fixen Idee, einen Brunnen zu graben, wo gar kein Wasser zu erwarten ist; die Mutter hält die Familie mit Babysitting gerade so über Wasser. Auch Sinans weitere Begegnungen zeichnen ein Bild von Stagnation und schleichendem Niedergang: Der Kleinstadt-Bürgermeister brüstet sich mit seiner Offenheit und Hilfsbereitschaft (»So muss Demokratie heute funktionieren!«), lehnt aber jede Unterstützung für das Buch ab, da es nichts Repräsentatives hat. Ganz ähnlich ein Unternehmer, dessen frühere Kulturförderung letztlich nur dem Eigennutz diente. Ein Imam schwadroniert von der wahren Auslegung des Islam, ist aber vor allem als Schnorrer bekannt, der geliehenes Geld nicht zurückzahlt.
Vielleicht ergeben diese Charakterminiaturen in ihrer Gesamtheit eine interessante, wenn auch nicht sehr subtile Parabel auf den gesellschaftlichen Zustand der Türkei unter Erdoğan, und vielleicht ist dieser Aspekt mit Blick auf Ceylans vorherigen Film, den Palmen-Gewinner »Winterschlaf«, nicht sonderlich originell. In seinem filmischen Erzählen jedoch ist »The Wild Pear Tree« absolut meisterhaft. Ceylan gelingt es, mit Bildern und Tönen, Blicken und Gesten weitere Ebenen einzuziehen, die Worte zu konterkarieren und der mäandernden Sinnsuche Sinans eine existenzielle Bedeutung zu verleihen, mit faszinierender Vieldeutigkeit, auch Abgründigkeit.
Zwei Szenen stechen besonders heraus: das Gespräch mit einem lokalen Schriftsteller in einer Buchhandlung, in dessen Verlauf Sinan sein Gegenüber mit Arroganz und Penetranz geradezu in den Wahnsinn treibt, während im Hintergrund Porträts berühmter Literaten wie Kafka schweigend auf die lächerliche Szene starren. Das Kommunikationsdesaster endet auf einer Brücke, mit einer völlig absurden und wunderbar komischen Volte. Zufällig ist auch Sinans Aufeinandertreffen mit einer Schulfreundin, in die er wohl heimlich verliebt war. Hatice trägt inzwischen Kopftuch und hat ihre Studienpläne aufgegeben, sie raucht nur noch heimlich und wird bald eine arrangierte Ehe eingehen. Wie diese Dialogszene unter einem Baum plötzlich ins Traumhafte driftet, mit Zeitlupenbildern und einem Kuss, der zum Biss wird, ist pure filmische Verzauberung.
Ceylan wagt ein spannungsvolles Paradox. Obwohl Sinan kaum zur Identifikation einlädt, taucht die Inszenierung immer wieder in seine subjektive Wahrnehmung ein. In den überwiegend nüchternen Fluss der Bilder ragen so unvermittelt Traumszenen und Fantasien, manche von ihnen bedrohlich, einige bizarr. So birgt der Film Überraschungen – die einen trotzdem nicht auf die bemerkenswerte und nicht aufgepfropft wirkende Wendung am Ende vorbereiten. Mit dem Schnee, einem Lieblingsmotiv Ceylans, kommt der Wandel.
Kommentare
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Wie schön geschrieben dieser Text über diesen seltsam herausragenden Film.
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