Kritik zu Auf trockenen Gräsern

© eksystent Filmverleih

In seinem zehnten Spielfilm erzählt Nuri Bilge Ceylan von einem Lehrer, der auf das Ende seines Pflichtdiensts in einem anatolischen Dorf wartet, als ein unerhörter Vorwurf gegen ihn erhoben wird

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Ferienende. Durch eine schneebedeckte weite Landschaft stapft Kunstlehrer Samet zu dem Dorf, in dem er am nächsten Tag wieder unterrichten wird. Entlegen und einsam scheint die Gegend, wie in tiefem Schlaf. Was in den ersten Bildern noch Frieden ausstrahlt, wird im Lauf der über drei Stunden Filmlänge zunehmend beklemmend wirken, wie auch Samets Beziehungen zu den anderen Menschen an der Schule und im Dorf doppelbödig und kompliziert werden. 

Anfangs scheint Samet gut integriert und beliebt. Zwar wartet er darauf, am Ende seiner Pflichtzeit nach Istanbul ziehen zu können, doch sehen wir ihn gut gelaunt beim Plausch mit Kollegen und Freunden im Dorf. Der Schülerin Sevim schenkt er einen Taschenspiegel, was zunächst ungewöhnlich, doch nicht unbedingt verwerflich wirkt. 

Nuri Bilge Ceylan zeigt uns diesen abgelegenen Dorfkosmos in seinem typischen Stil, in langen, ruhigen Einstellungen, mit ausgeprägtem Gespür für Landschaften und ausführlichen Dialogszenen. Wie in seinen vorangegangenen Filmen erzählen die Verhaltensweisen seiner Figuren ganz unaufdringlich auch vom Zustand der türkischen Gesellschaft, erscheinen symptomatisch. So erzeugt der Film eine Atmosphäre von Apathie und Repression, nur gelegentlich geht es explizit um Politik.

Je mehr Konflikte sich in Samets zunächst so ruhig scheinender Existenz auftun, desto vieldeutiger wird auch sein Charakter – und desto dichter und ebenfalls vieldeutiger die Inszenierung. Irgendwann steht ein unerhörter Vorwurf im Raum: Samet und sein Kollege Kenan werden zum Direktor der Schulbehörde zitiert, ohne zunächst die geringste Ahnung zu haben, worum es geht. In einer kafkaesken Szene – ja, auch einen melancholischen Sinn für Humor hat der Film – sitzen sie vor dem Direktor, der sie mit der Anklage konfrontiert, sie seien unangemessen mit Schülerinnen umgegangen, aber jegliches Präzisieren dieser Anschuldigung verweigert. Mehr könne er nicht sagen; so seien nun mal die Vorschriften. 

An diesem Punkt könnte der Film in ein dramaturgisch konventionelles Drama über den Kampf eines Lehrers um seine Ehre einschwenken. Doch während man als Betrachter bereits selbst Indizien sortiert und sich fragt, ob Samets Lieblingsschülerin Sevim hinter den Anschuldigungen steckt, vielleicht aus Rache für ein vorangegangenes schwieriges Gespräch, entwickelt sich ein weiterer Konfliktherd. Denn Samet und Kenan haben sich mit der Lehrerin Nuray angefreundet, und beide sind an mehr als Freundschaft interessiert . . .

Es ist erstaunlich, wie es Ceylan gelingt, trotz des wechselnden Fokus auf verschiedene Handlungsschwerpunkte ein hohes Maß an Spannung aufzubauen und diese auch zu halten. Schritt für Schritt wird der Protagonist dabei differenzierter gezeichnet, doch die Facetten, die zum Vorschein kommen, machen ihn immer weniger sympathisch. Wie überzeugend das dem Film gelingt, liegt nicht nur an der Schauspielkunst Deniz Celiloğlus in der Hauptrolle, sondern auch an der großartigen Kameraarbeit von Cevahir Şahin und Kürşat Üresin. So bewirken etwa feine Veränderungen in der Ausleuchtung von Samets Gesicht innerhalb einer Szene irritierende Verschiebungen in der Wahrnehmung; etwas Finsteres, Verschlagenes schleicht sich da schattenhaft in seine Züge. Und während im Umgang mit seinen Freunden nicht nur Gleichgültigkeit zutage tritt, sondern auch immer mehr Selbstgerechtigkeit und Berechnung, erscheint auch sein Verhalten gegenüber der Schülerin Sevim in anderem Licht. 

Überhaupt stellen sich die Männer hier als Erstarrte und Strauchelnde heraus, während die weiblichen Figuren Leben und Bewegung ausstrahlen: die Lehrerin Nuray, die ein Bein bei einem Bombenanschlag verloren hat und dennoch an ihren Idealen festhält (wunderbar gespielt von Merve Dizdar, die dafür in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde), und die Schülerin Sevim (Ece Bağci), die in ihren wenigen Szenen alle Projektionen und Erwartungen an diese Figur aushebelt.

Die bedächtige, sich aber zunehmend als doppelbödig herausstellende Erzählweise von »Auf trockenen Gräsern« lässt immer neue Schlüsse zu – die dann wieder in Zweifel gezogen werden. Nicht zuletzt aus dieser scheinbare Gewissheiten hinterfragenden Vieldeutigkeit, kombiniert mit melancholischen Landschaftsbildern, bezieht dieses elegische Werk über Wahrnehmung und Wahrheit eine lange nachklingende Poesie.

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