Kritik zu One Life

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Mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle erzählt James Hawes in konventionellem Rahmen die Geschichte von Nicholas Winton, der 1938 mehrere Kindertransporte von der Tschechoslowakei nach Großbritannien organisierte – und nie dafür gelobt werden wollte

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»Wer auch nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.« Der aus der Mischna, der Grundlage des Talmud, überlieferte Satz findet seinen stärksten Ausdruck, wenn sich jüdische Familien von Überlebenden treffen, um einen Retter zu ehren. Für den 1909 in London geborenen Nicholas Winton halten die Worte keinen Trost bereit. Dabei hat Winton in der Zeit zwischen der Besetzung des Sudetenlandes durch deutsche Truppen im Oktober 1938 und dem Einmarsch in Prag fünf Monate später 669 jüdischen Kindern das Leben gerettet. Sie waren »Nicky's children«.

Der junge Börsenmakler half dabei, bürokratische Hindernisse zu überwinden. Er legte Spendensammlungen auf und organisierte Visa für die tschechoslowakischen Kinder. Unterstützt von einem emotionalen Leserbrief in der »Times«, stellte er ihre Unterbringung in britischen Pflegefamilien oder Heimen sicher. In James Hawes' Film »One Life« beharrt der von Anthony Hopkins verkörperte alte Winton mit melancholischem Trotz dennoch darauf, versagt zu haben. »Not enough«, stellt er fest. Es hätten mehr Kinder gerettet werden müssen: »It's never enough, is it?«

Lucinda Coxon und Nick Drake haben das 2014 erschienene Buch »If It's Not Impos­sible . . . The Life Of Sir Nicholas Winton« seiner Tochter Barbara fürs Kino adaptiert. Sie erzählen die Geschichte eines Mannes, den es 1938 eher zufällig nach Prag verschlug. Die begründete Ahnung von der Besetzung der Tschechoslowakei durch das deutsche Militär und der Anblick frierender und furchtsamer Menschen führte ihn zu der Erkenntnis: »Look, I have to do something.« 

Zac Nicholsons Kamera zeigt zu Anfang Winton 1987 in seinem Haus in Maidenhead. Er betrachtet ein Album mit Fotos von Kindern, beschäftigt sich mit Kuchen und Kleingeld und kommentiert die gegenwärtige Wirtschaftspolitik, insbesondere den Effekt von Deregulierung: »Idioten.« Später springt der fitte Greis (Winton wurde 106) in den Swimmingpool, und der Film taucht ein in die Vergangenheit. Johnny Flynn bewegt sich als Winton 1938 in einem konventionell gestalteten Rahmen, den keiner der Dialoge und Spannungsbögen, mit denen die Dramatik der Ereignisse rekonstruiert wird, jemals verlässt. 

»One Life« gewinnt Substanz und Klasse durch seine Charakterzeichnung, mit einem Ensemble, dem in kleinen Rollen auch Lena Olin, Romola Garai und Marthe Keller sowie Samuel Finzi und Jonathan Pryce angehören. Flynn als Winton ist nicht zum Helden geboren, seinen humanitären Einsatz betrachtet er als etwas vollkommen Gewöhnliches. Konsequenterweise will er eine »Armee der Gewöhnlichen« mobilisieren, wie er sagt. Unter den Menschen, die mithelfen, sticht Wintons Mutter hervor. Helena Bonham Carter spielt Babette, eine Frau mit deutschen Wurzeln, mit der Überwältigungskondition einer Margaret Thatcher. Das Wort »Nein« ist dieser im Pelzmantel auftretenden Alphafrau fremd; da steht die Bürokratie auf verlorenem Posten. 

Anthony Hopkins fügt den unvergesslichen Figuren seiner Filmkarriere eine weitere hinzu. Er zeichnet das Bild eines Mannes ohne Stolz, geschweige denn Hybris. Wintons Bescheidenheit nimmt fast schon pathologisch anmutende Züge an: »Nothing to brag about.« Er erscheint als dickköpfig, brüsk, rhetorisch zielgenau. In Hopkins' Darstellung verbirgt sich in diesem Mann ein Kümmerer, der Geld für karitative Zwecke einsammelt und sich bei der Telefonseelsorge engagiert. Die Vergangenheit lässt ihn nicht los, wühlt ihn immer noch auf. Um angesichts seiner Erfahrungen und Selbstzweifel nicht wahnsinnig zu werden, hält er Gefühle gewaltsam unter Verschluss. 

»That's Life!«, eine Fernsehsendung der BBC, setzte Winton 1988 dem hellen Licht der Öffentlichkeit aus. Im TV-Studio forderte Moderatorin Esther Rantzen alle im Publikum auf, die ihr Leben Winton verdankten, sich zu erheben. Dutzende von Menschen standen auf. Der vorher nicht eingeweihte Retter war überwältigt, es flossen Tränen. Die bewegende Szene ist bei Youtube abrufbar. Hopkins bringt mit seiner Kunst dem Kinopublikum das Pathos des Augenblicks nahe.

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