Herkunft

Der Schmerz braucht kein Vorbild. Ein Filmemacher muss ihn kennen oder sich ihn wenigstens vorstellen können. Anderswo abschauen lässt er sich jedenfalls nicht. Aber das schließt nicht aus, dass er eine Genealogie hat.

Den Schmerz, der den trauernden Lucas (Paul Kircher) plötzlich ergreift, hat Thomas Abeltshauser in seiner Kritik zu »Der Gymnasiast« im aktuellen Heft sehr schön beschrieben. Er bricht wie eine Welle über ihn hinein, ist unbeherrschbar, er geht so tief, dass Lucas ihn herausschreien muss. Seit sein Vater bei einem Verkehrsunfall verunglückte, ist sein Leben zu einem wilden Tier geworden, das sich nicht zähmen lässt. Nun will er radikal mit allem brechen, will von der Schule gehen und macht brüsk Schluss mit seinem Freund. Auch zu den Trauergemeinschaft daheim muss er Abstand gewinnen. So stimmt seine Mutter (Juliette Binoche) zu, dass er eine Auszeit nimmt und sich für ein paar Tage seinem Bruder Quentin (Vincent Lacoste) anschließt, der in Paris lebt.

Christoph Honorés Film läuft seit einer Woche bei uns und lässt sich hoffentlich noch eine Weile in guten Kinos entdecken. Er wurde am selben Tag wie »Maigret« gestartet, wo die Flucht aus der Provinz ein Anlass zu bürgerlich-konservativer, gleichsam patriarchaler Sorge ist. Bei Honoré ist die Ankunft in Paris hingegen zukunftsoffen: eine Chance, sich auszuprobieren. "Mein Bruder vom Land", so stellt Quentin ihn seinen Freunden und vor allem seinem Mitbewohner vor. Lacoste, den ich stets ein wenig unterschätze, hat ja Übung darin, den gelernten Pariser zu spielen. Gerade erst hat er in »Verlorene Illusionen« gezeigt, dass er mit allen Wasser der Hauptstadt gewaschen ist und Neuankömmlinge auf die Spur voran bringen kann. Quentin ist also nicht mehr "vom Land" - und Lucas hat eine Menge aufzuholen. »Der Gymnasiast« ist stark in Honorés eigener Biographie grundiert; der Film ist seinem verstorbenen Vater gewidmet.

Beim Sehen musste ich sehr, sehr oft an „Alice und Martin“ denken, den André Téchiné 1998 gedreht hat. Ein offensichtliches Bindeglied ist Juliette Binoche. Sie spielt damals die Mitbewohnerin des schwulen Halbbruders spielte, den Téchinés Proninzflüchtling Martin (Alexis Loret) aufsucht und die seine Geliebte und Mentorin wird. Beide Filme haben eine ähnliche Ausgangssituation und auch weitere Handlungselemente gemeinsam, darunter später einen Aufenthalt in der Psychiatrie. Die verborgene, rätselhafte Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten, die die Charaktere keine Ruhe finden lässt, ist ein Motiv, das Téchiné in vielen seiner Filme umtreibt.

Die Parallelen sind indes so groß wie die Unterschiede. Zunächst einmal hat Honoré mit seinem Hauptdarsteller Paul Kircher eine weit glücklichere Wahl getroffen als Téchiné mit dem Debütanten Alexis Loret. Der Tod des Vaters spielt bei Téchiné eine ganz andere Rolle und die Flucht vor der Familie ist überlebenswichtig, denn diese macht Martin krank. Bei Honoré hingegen ist die Kernfamilie ein inniger Verbund und wird das Verhältnis der Brüder von ruppiger Zärtlichkeit bestimmt. Ein weiterer Gegensatz besteht in der filmischen Auffassung von Provinz. Bei Honoré dient Lucas' Heimat in den Alpen als eine Kulisse, die durchaus austauschbar wäre. (Die Region Rhone-Alpes ist eben spendabel bei der Vergabe von Fördergeldern.) Für Téchiné aber, den Meister der atmosphärischen Einstellung, ist die Landschaft existenziell. Er braucht die Dramatik der Berge, ihrer Schluchten und Abgründe. Martin muss sich ihr aussetzen, versteckt sich in ihr, haust dort wie ein gehetztes, wildes Tier. Er stiehlt Eier und schlürft sie roh aus.

Die Verwandtschaft beider Filme besteht für mich in der Zerrissenheit der Protagonisten und der Heftigkeit ihrer Gefühle. Bei Martin geht das einmal so weit, dass er ohnmächtig wird, gar in ein Koma fällt. Téchinés junge Protagonisten sind rastlos, sie agieren ungeschützt und voll roher Naivität. Ein solch dramatischer Furor findet sich im französischen Kino dieser Zeit sonst nur noch bei Maurice Pialat; bei Olivier Assayas (der ein Co-Autor von »Alice und Martin« ist) und Philippe Garrel ist er ästhetisch weit stärker eingehegt. "Très romanesque" nannte das Caroline Champetier, die ziemlich stolz auf ihre Kameraarbeit bei dem Film war und Himmel und Hölle in Bewegung setzte, damit ich die Pariser Pressevorführung besuchen konnte. Wie übersetzt man das? Das Adjektiv "romanesk" gibt es im Deutschen womöglich gar nicht. Aber lautmalerisch trifft es gut, was Téchiné seinerzeit umtrieb.

Erst in späteren Filmen begibt er sich ab und zu in den Schutz maßvollerer Gefühlsregungen. Aber letztlich muss er sich erzählerisch immer an Punkte bringen, von denen es kein Zurück mehr gibt. Um seiner Figuren willen geht er diese Risiken ein, stellt sich unaufhörlich dem Zweifel, ob das Publikum ihm folgen wird. Ich habe eine Weile gebraucht um zu begreifen, dass Téchiné mit dem Aufruhr seiner jungen, heterosexuellen Protagonisten eigentlich seine eigene, homosexuelle Initiation meinte. So oder so war er im letzten Jahrhundert ein Pilotfisch, ein Wegbereiter des queeren Melodrams. Ich kann mich an keine Interviewaussage Christophe Honorés erinnern, in der er sich als dessen Schüler bezeichnet. Aber es ist gut möglich, dass es sie gibt. Und schwer vorstellbar, dass er in sich nicht diese Herkunft spürt. Seine Filme sind jedenfalls ein starkes Echo.

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