Kritik zu Verlorene Illusionen
In der ersten Kinoadaption von Balzacs Medienroman zeichnet Xavier Giannoli mit Eleganz und Bosheit das Sittenbild der Epoche der Restauration und des aufblühenden Zeitungswesens
Das Städtchen Angoulême des Jahres 1820 ist für Lucien (Benjamin Voisin), einen schönen jungen Dichter, zu klein. Als sich wegen seiner Liebschaft mit der lokalen Kunstmäzenin Louise de Bargeton (Cécile de France) ein Skandal anbahnt, zieht er mit ihr nach Paris. Die Adelige will ihn Gönnern vorstellen, lässt ihren kleinbürgerlichen Lover, als er sie mit seinen ungeschliffenen Manieren zur gesellschaftlichen Unperson zu machen droht, jedoch fallen. Aber Lucien gibt nicht auf und begegnet beim Kellnern dem Redakteur Etienne Lousteau (Vincent Lacoste), der ihm die Spielregeln des Pariser Journalismus erklärt. Lucien lernt schnell, entwickelt sich zum ebenso geistreichen wie boshaften Schreiber und ergibt sich dem Rausch der Vergnügungen der aufblühenden Metropole. Seinen Traum, ein Schriftsteller zu werden, will er aber nicht begraben.
Lucien de Rubempré – oder Lucien Chardon, wie seine Feinde ihn titulieren – ist die vielleicht bekannteste Figur im Romanwerk von Honoré de Balzac. Mit diesem ehrgeizigen Aufsteiger, der in Paris sein Glück machen will, erschuf er, angelehnt an seinen eigenen Werdegang, einen Archetypus. Es verwundert nicht, dass neben einer Serie aus den 60ern Xavier Giannoli nun der Erste ist, der sich dieses sprichwörtlich gewordenen Antihelden annimmt. Giannoli konzentriert sich, mit leichten Änderungen, auf den zweiten Band des Romans, »Ein großer Mann aus der Provinz in Paris«, deutet in knappen fünf Minuten die Vorgeschichte an, und schon sitzt unser Mann in der Kutsche und landet im Gewimmel der Metropole.
Mit Luciens Parcours durch die gesellschaftlichen Schichten wird in raschen Strichen die Goldgräberstimmung der Epoche der Restauration skizziert, geprägt von stürmischer Modernisierung und vom Fortbestehen einer alten Gegnerschaft. Royalisten stellen die Elite, und es zeigt sich, dass sie im Abwehrkampf gegen bürgerliche Emporkömmlinge, von denen sie mit der Feder anstelle der revolutionären Mistgabel getriezt werden, erneut am längeren Hebel sitzen. Zu Letzteren gehören Lucien und seine Kollegen, champagnerselige Wadenbeißer der »kleinen frechen Pariser Presse«, deren Zeitungen sich umso besser verkaufen, je hämischer sie die Regierung verspotten. Mit seinen bissigen Artikeln schafft sich der rachsüchtige Lucien Todfeinde – und will doch Eingang finden in jene mit feinster Ironie attackierten aristokratischen Salons.
Die ebenso konzise wie fließende Inszenierung spiegelt in ihrer Eleganz jene alles bestimmende Eleganz der »besseren Gesellschaft« und ist auch in ihrer Entlarvung der Boshaftigkeit von Lucien und seines Umfeldes gnadenlos boshaft. Er steigt zum Star einer Clique energiegeladener junger Typen auf, die sich als Könige der Welt fühlen und doch Marionetten sind.
Mit Gusto wird die Wildweststimmung im Kunstbetrieb beschrieben, wo in den zahlreich entstehenden Boulevardtheatern »la claque« herrscht, Schutzgeld an Eierwerfer bezahlt werden muss, Erpressung durch Artikel übliche Praxis ist und Schauspielerinnen ihre Gunst zwischen einem »sugar daddy« und Kritikern teilen. Dass diese Romanadaption nie plüschig wirkt, ist, neben der ansteckenden Lebenslust dieses Sittengemäldes, auch dezenten Analogien zur Gegenwart geschuldet. Zeitungen, die nicht der Wahrheit, sondern Aktionären verpflichtet sind, das Aufkommen des Anzeigengeschäftes, Intrigantenstadel aus Regierung und Redaktion: Und wer denkt bei der Beschleunigung der Kommunikation durch Brieftauben nicht an Twitter und Fake News?
In dieser Schlangengrube bleibt Lucien, obwohl er seine Künstlerseele dem Teufel verkauft hat, doch ein Tor reinen Herzens, der sich durch seine Liebe zu einer Schauspielerin und zur Literatur verwundbar macht. Benjamin Voisin überzeugt als tragischer Ikarus, für Farbe sorgen unter anderem Gérard Depardieu als analphabetischer Verleger und der herrlich abgefeimte Vincent Lacoste als Verführer. Und wo diese Literaturverfilmung von der melancholischen Botschaft »Plus ça change, plus c'est la même chose« durchzogen ist, so erweist sie, mit ihrer Feier von Esprit und Rhetorik, doch Honoré de Balzac alle Ehre.
Kommentare
Verlorene Illusionen
Meines Erachtens werden in der Rezension von B. Roschy zwei tragende Figuren leider kaum oder gar nicht behandelt. So vor allem die Schauspielerin Coralie (Salomé Dewaels). Sie ist meinem Eindruck nach die wahre Künstlerin in der ganzen Handlung, zum einen auf der Bühne, sie spielt hervorragend ihre Rollen, für die sie lebt und beständig lernt, auch wenn man sie schlussendlich gnadenlos auspfeiffen lässt. Zum anderen liebt sie aufrichtig Lucien, den sie jedoch als "arme" Schauspielerin nicht zu den Adelsgesellschaften begleiten kann bzw. darf, zu welchen man ihn indes extra einlädt. Solcherlei Ausgrenzung erfolgt allerdings nicht in erster Linie auf Veranlassung Luciens, sondern der herrschenden (Un)Sitten wegen. Coralie lässt sich auch nicht bestechen von Madame de Bargeton, der Gönnerin Luciens, und besteht ihr gegenüber darauf, ihr Geld ausschließlich durch Arbeit verdienen zu wollen. Das halte ich für den stärksten Ausdruck des Anti-Aristokratismus im ganzen Film! Am Ende stirbt sie an Schwindsucht und wird verscharrt in einem Mehrfachgrab. Wahrlich kein schöner Tod, aber im Unterschied zu anderen hat sie im Leben alles gegeben – und schien mir obendrein eine glückliche Frau zu sein – eine Lebenskünstlerin. Diese Kunst hat sie Lucien voraus, der seine Ambitionen diesbezüglich - derentwegen er ja nach Paris kam – dort nicht durchhielt - und wohl auch deswegen Coralie sehr bewundert (gerade im Unterschied zu der Meute der zwar liberalen, aber demoralisierten Journalisten, mit denen er es sonst zu tun hat) und sich zu ihr hingezogen fühlt. Ein ehrlicher männlicher Freund Luciens, vielleicht seelenverwandt zu Coralie, wiederum ist der Dichter Nathan, den Lucien auf Weisung seines Chefredakteurs Etienne Lousteau zunächst dem Veriss preisgibt, obwohl er ihn gut findet, – und der sich nach dem Tod Coaralies, mit Lucien vor der Friedhofsmauer stehend, schließlich als Erzähler der Geschichte zu erkennen gibt. Soweit mal meine Interpretation besagter Figuren.
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