Nahaufnahme von Nahuel Pérez Biscayart
Nahuel Pérez Biscayart in »Frieden, Liebe und Death Metal« (2021). © Studiocanal
Nahuel Pérez Biscayart macht keine halben Sachen. Er ist immer aufmerksam, präsent, er elektrisiert. Und oft muss er leiden: in »120 BPM« oder jetzt in »Frieden, Liebe und Death Metal«
Als die Schüsse im »Bataclan« fallen, befindet sich Ramón inmitten der Menge und glaubt, dass er den Kugeln ausweichen kann. Für einen Moment ist er überzeugt, unsterblich zu sein. In den Tagen danach wird ihm klar: »Wir brauchen drei Leben, um das zu verarbeiten.« Seine Lebensgefährtin Céline veranschlagt ein anderes Zeitmaß: »Du wirst ein Opfer sein, bis du 70 bist.« Während Nahuel Pérez Biscayart als Ramón fortan von Panikattacken heimgesucht wird, scheint Céline – Noémie Merlant – das Danach mühelos bewältigen zu können. Wie wird es ausgehen mit den Zweien? Manchmal, ganz selten, kehrt noch die Ausgelassenheit zurück, die vorher zwischen ihnen herrschte. Aber jetzt trinken sie mehr als früher und streiten dann häufiger. Sein Anlehnungsbedürfnis ist groß; sie hat für sich den Part der Robusten bestimmt. Die Erscheinung der Schauspieler spielt dem zu: Merlant überragt Biscayart, wie viele seiner Leinwandpartnerinnen zuvor, um einige Zentimeter. Im »Bataclan« hatte Céline Kraft genug, ihren ohnmächtigen Lebensgefährten aufzurichten und meterweit zu schleppen.
Er kann nicht in der Verleugnung leben. Eine Therapeutin rät ihm, seine Erlebnisse und Gefühle aufzuschreiben: Seine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Fortan ist Ramón besessen von einer anderen Angst: etwas zu vergessen. Er nimmt das Mandat an, Überlebender zu sein. So handelt »Frieden, Liebe und Death Metal« auch von der Überlieferung als Heilprozess. Der Film nimmt in Anspruch, auf den Erinnerungen der Opfer des Terroranschlags zu beruhen. Nahuel Pérez Biscayart spielt mithin nicht nur ein Individuum, sondern verkörpert ein kollektives Gedächtnis. Mit den Geschundenen der Welt hat dieser Darsteller Erfahrung: als an AIDS erkrankter Aktivist in »120 BPM«, als Gueule cassée (ein Veteran, der mit entstelltem Gesicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte) in »Au revoir là-haut«; als belgischer Rabbinersohn, der sich in »Persischstunden« als Perser ausgibt, um den Holocaust zu überleben.
Er gibt ihnen ein Gesicht, das im Kino seinesgleichen sucht. Es strebt nicht nach Symmetrie, erst recht nicht nach Ebenmaß. Seine Proportionen stimmen nicht. Die Augen sind viel zu groß und die Kinnpartie ist zu schmal. Häufig trägt er einen Bart, der unregelmäßig wächst und ums Kinn herum Lücken aufweist. Sein Gesicht mutet unaufgeräumt an. Das war in keiner Rolle, die er bisher gespielt hat, von Schaden. Zuallererst sind es die Augen, die die Aufmerksamkeit des Publikums absorbieren. Sie können nicht anders, als wachsam und wissbegierig zu schauen. Selbst im Zustand größter Erschöpfung wandern die Pupillen nervös hin und her; auch wenn er die Augen senkt oder dem Blick seines Gegenübers ausweicht, kann er sie diesem wieder blitzschnell zuwenden und ihn unerbittlich fixieren. Die Brauen heben oder senken sich dabei lebhaft und sein Mund ist auch beim Schweigen beredt. Diese alerte Mimik überträgt sich in ein elektrisiertes, ergriffenes, feingliedrig leuchtendes Körperspiel. Biscayart stellt seine Figuren nicht als ein technisch versierter Darsteller her, sondern öffnet sich mit Haut und Haaren für sie, bis sie seinen Leib durchströmen. In der zweiten Hälfte von »120 BPM« gibt sein Spiel den Rhythmus des Ensemblefilms vor. Sean, ein Act-Up-Aktivist der ersten Stunde, ist HIV-positiv. Pérez Biscayart hört nie auf, ihn als Kämpfer zu zeichnen, von der Wut im Plural bis zur Agonie im Singular.
In dieser Rolle erlebt der 1986 in Buenos Aires geborene Schauspieler seinen internationalen Durchbruch. Sein Vater arbeitet als Fotograf und Architekt, die Mutter als Psychoanalytikerin (ein Beruf, der in Argentinien so verbreitet ist wie der des Gemüsehändlers, wie er gern in Interviews erklärt). Ab 2003 tritt er in ersten Telenovelas auf. Internationale Aufmerksamkeit erregt 2006 seine Rolle in dem argentinisch-britischen Teenagerdrama »Glue«. Mit 22 verbringt er ein Jahr in New York, wo er an Workshops der experimentellen Theatertruppe »The Wooster Group« teilnimmt, die Willem Dafoe leitet. 2010 tritt er erstmals in einem französischen Film auf, unter der Regie von Benoît Jacquot in »Tief in den Wäldern/Deep in the Woods« (Au fond des bois). 2018 gewinnt er einen César für »120 BPM«. Mittlerweile weist seine Filmografie 53 Titel auf. Zwischendurch tritt er im Theater auf, etwa an der Seite Isabelle Hupperts in »Die Glasmenagerie«. Er hat Agenten in sieben Ländern und führt das Leben eines Globetrotters. Weltbürger klingt zu gesetzt für ihn.
Sein Debüt im französischen Kino ist vielleicht die entscheidende Wegmarke in seiner Karriere. »Tief in den Wäldern« bietet ihm eine räudige Rolle. Er verkörpert eine Figur ohne Herkunft, ein wildes Kind der Berge, das sich 1865 in eine Arzttochter verliebt, sie entführt, schändet und doch betört. Den heimischen Schauspielern, denen Benoît Jacquot die Rolle anbietet, fehlt der Mut zur Hässlichkeit. Der Regisseur entdeckt den Argentinier in »La sangre brota«, wo er einen Punk spielt. Jacquot ist fasziniert von dessen Präsenz, und als er hört, dass Nahuel in Südpatagonien »Tiger« bedeutet, ist die Besetzungsfrage entschieden. Im Drehbuch ist die Figur noch ein kräftiger Höhlenmensch, aber Pérez Biscayart schreibt sie sich auf den Leib: ein Magier mit fauligen Zähnen und schmutzigen Händen, der sich taubstumm stellt und die Namen der römischen Kaiser aufsagen kann. Obwohl er erst nach den Dreharbeiten Französisch lernt, ist er in der Rolle schon ganz da.
Das Kauderwelsch, das er hier spricht, ist fast eine Vorübung für die Sprache, die er als belgischer Jude in »Persischstunden« erfindet, um die Gunst eines SS-Offiziers (Lars Eidinger) zu gewinnen, der Farsi lernen will. Auch seine anderen deutschsprachigen Rollen spricht er mit einem Akzent (brasilianisch in »Vor der Morgenröte«, litauisch in »Becks letzter Sommer«), der seine Figuren auf Abstand hält. Der Schauspieler überwindet ihn zwar mit einnehmender Intensität, aber er verkörpert eben doch das Andere, Fremde. Es geniert, wie unterwürfig seine Figuren sich in den deutsch-sprachigen Filmen geben müssen. Als Dolmetscher Stefan Zweigs macht er sich in »Vor der Morgenröte« anheischig, nicht ohne provinziellen Charme. In »Becks letzter Sommer« und »Persischstunden« immerhin dürfen seine Charaktere an ihren Mentoren gerechten Verrat üben.
Man unterschätzt ihn leicht. Den César gewinnt er nicht als Bester Hauptdarsteller, sondern als meilleur jeune espoir masculin, als Bester Nachwuchsdarsteller. Ein Wunderkind mit Anfang 30? Zu diesem Zeitpunkt steht er bereits seit 14 Jahren vor der Kamera, sieben davon in Frankreich. Seine jungenhafte Erscheinung täuscht, was Fluch und Chance zugleich ist. Als Punk könnte man ihn nach wie vor besetzen. 2015 ist er durchaus noch glaubhaft als Gymnasiast in »Becks letzter Sommer«, zumal er hier keinen Bart trägt. Rauli ist der Älteste auf der Schule, aber trotzdem zu jung für die Klassenkameradin, in die er sich verliebt hat; zum Glück nicht unsterblich. Einmal zückt er eine Pistole, die er heimlich mit sich führt, seit er in Litauen gehänselt wurde.
Um einen solch schmächtigen Kerl macht man sich Sorgen – einer wie er muss schon zäh sein, um standzuhalten – und ist jedes Mal überrascht, wie grundlos das sein kann. In »Persischstunden« manipuliert er seinen Gönner mit Intuition und Raffinement; seinem phänomenalen Gedächtnis ist es zu danken, das 2840 der Lagerinsassen am Ende nicht namenlos bleiben müssen. In »Becks letzter Sommer« entdeckt sein Lehrer (Christian Ulmen) Raulis enormes Talent als Sänger und Gitarrist und will ihn fördern. Bis dahin bestand sein größter Ehrgeiz darin, endlich älter zu werden. Aber wie soll das diesem Peter Pan des Schmerzes und der Zuversicht gelingen? Unmöglich, sich ihn als älteren Mann vorzustellen. Gewiss, irgendwann werden sich die hohlen Wangen sacht füllen, werden sich Falten in sein Antlitz graben. Seine Augen freilich haben schon jetzt so viel gesehen.
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