Kritik zu Annie Ernaux – Die Super 8-Jahre
Die Autorin hat zusammen mit ihrem Sohn das familiäre Filmarchiv zu einem Zeitdokument aufgearbeitet
Am 10. Dezember erhält Annie Ernaux den Nobelpreis für Literatur, längst ist auch eine breitere Öffentlichkeit auf die autofiktionalen Schriften der inzwischen 82-jährigen Französin aufmerksam geworden. Bereits im Mai hatte in Cannes ein Dokumentarfilm Weltpremiere, der nun erfreulicherweise auch regulär ins Kino kommt. Zwischen 1972 und 1981 hatte die junge Familie Ernaux ihre Reisen und andere private Momente mit einer Super-8-Kamera festgehalten. Die Aufnahmen hat nun einer der beiden Söhne, David Ernaux-Briot, zusammen mit seiner Mutter zu einem Film montiert, unterlegt mit ihrem Kommentar von heute. Zu sehen sind Reisen nach Chile und Brasilien, nach Albanien und Moskau, oft aus politischem Interesse, aber auch Fahrten in die Provinz, wo die Schwester lebt. Auch andere familiäre Ereignisse, die für wichtig erachtet wurden, bannten die Ernaux' auf Film, wenn etwa an Weihnachten die Söhne Geschenke auspackten.
Die Filme selbst sind ohne Ton. Was diese Momentaufnahmen und den daraus entstandenen Film vom privaten Home-Movie absetzen, ist Annie Ernaux' Gabe, sie als Ausgangsmaterial zu nutzen für ihre »Archäologie« des eigenen Lebens, die sie in ihren Büchern seit Jahren praktiziert, und nun auf das Medium Film überträgt. Die Sprache des Offtextes, von ihr geschrieben und gesprochen, ist klar und präzise, ohne Umschweife. Die Worte korrespondieren mit den Bildern, sie beschreiben nicht bloß das zu Sehende, sie sind Kommentar im besten Sinne. Ein Blick zurück, so intim und dicht formuliert wie in ihren Büchern.
Ernaux erinnert sich dabei an eine Zeit, in der sie noch keine bekannte Schriftstellerin war und ihr Schreiben noch nicht im Mittelpunkt stand. Ihr Leben ist geprägt von ihrer Rolle als Tochter, Mutter und Ehefrau, sie arbeitet als Schullehrerin und unterrichtet Literatur. Für die eigene schriftliche Reflexion muss sie sich Auszeiten nehmen. Das tut sie heimlich, auch ihre Familie ahnt lange nichts davon, dass sie an ihrem ersten Roman schreibt.
Die Aufnahmen sind nicht nur persönliche Erinnerungen der Familie Ernaux, sondern öffnen sich immer wieder zu einem Bild der französischen Gesellschaft im Umbruch. Sie sind in den soziologisch-politischen Kontext eingebettet und sagen so auch etwas über die Verfasstheit und Interessen einer linksbürgerlichen Öffentlichkeit in Frankreich aus. Die Veränderungen innerhalb der Familie, vom Wachsen bis zur Trennung der Eltern, gehen einher mit dem Wandel in der Dekade nach '68. »Wir waren Linke, keine Kommunisten«, thematisiert Ernaux ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse und den Wunsch nach sozialem Aufstieg an einer Stelle.
1981 zerbrach die Ehe mit Philippe, und damit endete auch das Filmen. Ernaux' Zeit als Autorin hingegen sollte erst noch beginnen. Der deutsche Verleih will dieses faszinierende Zeitdokument auch im Original mit Untertiteln herausbringen. Eine schöne Gelegenheit, Ernaux' Stimme nicht nur zu lesen, sondern auch zu hören.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns