Kritik zu Gone Baby Gone

© Walt Disney

Die Coolness stirbt zuerst: Ben Affleck debütiert als Regisseur mit einem ungewöhnlichen Noir

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Gerade hat sich Casey Affleck als der Mann, der Jesse James erschoss, in die erste Schauspiel-Liga katapultiert. Sein Bruder Ben dagegen hat sich nach einem Karriertief als Darsteller auf die andere Seite der Kamera begeben. Beide zusammen sind ein ziemlich gutes Team.

Die US-Krimiserien der vergangenen fünf, sechs Jahre haben sich eine Menge beim besseren Kino geborgt: Harte Geschichten werden wendungsreich und bildgewaltig erzählt. Helden, die längst keine mehr sind, tun, was sie tun müssen, und Könner wie »Criminal Intent«-Hauptdarsteller Vincent d'Onofrio machen aus jeder Episode großes Kino. Das Kino seinerseits ließ sich die Innovationsbutter vom Brot nehmen, mochte die Fortschritte der Konkurrenz nur matt mit Remakes von mehr oder weniger kultigen Retro-Serien kontern.

Regisseur und Ko-Autor Ben Affleck macht diesen verlorenen Boden mit seinem Regiedebüt »Gone Baby Gone« gut. Ausgerechnet Ben Affleck, der Schauspieler, dessen Attraktivität immer ein wenig ins Teigige zu kippen droht. Der einen Großteil der zehn Jahre seit seinem Oscar für das Drehbuch zu »Good Will Hunting« mit mäßigen Filmen und Jennifer Lopez verplempert hat. Aber was heißt schon »ausgerechnet«? In Wahrheit hat er Anlauf genommen, und nun ist er weit gesprungen. Und ganz nah bei sich und seinem persönlichen Umfeld geblieben: In seiner Heimatstadt Boston, mit seinem Ko-Autor und Schulfreund Aaron Stockard, mit der Wahl des Hauptdarstellers, seinem Bruder Casey. Diese Nähepunkte geben einem komplizierten, dunklen, unberechenbaren Film seine traumwandlerische Qualität.

Hier weiß jemand Bescheid: Über das Bostoner Arbeiterviertel Dorchester zum Beispiel, wo niemand gut aussieht und kaum jemand einen Rest Anstand bewahrt. Die vierjährige Amanda verschwindet hier, was nach dem Bekanntwerden das white trash-Milieu ihrer Mutter Helene dem üblichen Medienspektakel aussetzt. Die Zufallsanalogie zu dem aktuellen Fall »Maddie« greift nur kurz, denn hier ist es kein PR-kundiges Musterpaar, das sich ins Licht einer gruselsüchtigen Öffentlichkeit begibt. Helene ist eine nölende, resthübsche Rabenmutter mit erheblicher Teilschuld. Affleck inszeniert ihre Darstellerin Amy Ryan zur Sensation: Jede ihrer Szenen revidiert die vorangegangene, wir glauben, sie zu fassen, sie manchmal sogar zu mögen, aber das ist ihr egal. Sie ist Teil eines anderen Zusammenhanges. So erzählt Affleck auch die anderen Figuren, die ganze Geschichte: Ihn interessiert nicht die Mechanik eines schematischen Plots. Die stellt er aus, und dann stellt er sie bloß.

Zunächst scheint vieles klar, als das ziemlich junge und sehr gut aussehende Paar Patrick und Angie sich von Amandas Tante anheuern lässt. Die recht unerfahrenen, aber szenekundigen Privatdetektive sollen abseits der abgebrühten Spezialeinheit Punkte und Fakten sammeln. Während der gesamten Exposition weitet Affleck jede Szene zu einer veritablen Begegnung aus: Wir lernen das Paar kennen, er auf eifrige Weise unterspannt, sie von attraktiver Zögerlichkeit. Mit ihnen erleben wir das kaputte familiäre Umfeld, die spitzfindige Güte des von Morgan Freeman verkörperten Chiefs und die Rumpeligkeit seiner Police Detectives, darunter Ed Harris.

Erst später bemerken wir, dass wir niemanden kennengelernt, sondern jeden nur zugeordnet haben. Patrick geht es nicht anders bei seinen Lehrtagen des Schmerzes. Die Coolness stirbt zuerst, später die Gewissheit, die Unschuld und die Liebe. Der junge Detektiv wird zum Held, zum Rächer, zum Verräter. Er sortiert die Verhältnisse um, nachdem er die längste Zeit gebraucht hat, um sie zu begreifen. Er gewinnt an Erkenntnis und Seele, aber – und das ist vielleicht die zentrale Qualität von »Gone Baby Gone« – es reicht ihm und dem Film nicht zum Happy End. Das gab es auch in Eastwoods »Mystic River« nicht, ebenfalls die Verfilmung eines dunklen Romans des Bostoner Autors Dennis Lehane. Eastwood jedoch hat mitsamt seinen hochkarätigen Mimen Grausamkeit auf ihren perfektesten Punkt gebracht. Affleck – beide Afflecks muss man sagen – kommen auf keinen Punkt.

Sie versuchen – inszenatorisch der eine, darstellerisch der andere –, sich Entscheidungen zu erarbeiten, anstatt sie aus Bekanntem, aus Gesehenem abzuleiten. Wir werden also Zeuge eines Experiments. Afflecks Neo-Thriller hat das Qualitätsfernsehen ebenso überwunden wie seine literarische Vorlage mitsamt deren spekulativem Thema und die zu erwartenden darstellerischen Glanzleistungen von Harris und Freeman. Er will nicht brillieren und nicht überzeugen. Und doch überzeugt er uns auf brillante Weise davon, dass auch und gerade das amerikanische Kino immer dann am aufregendsten ist, wenn es sich so ziel- wie stilsicher für den Zweifel entscheidet.

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