Kritik zu Mit ganzer Kraft – Hürden gibt es nur im Kopf
Mehr als nur ein weiterer Film über Helden mit Behinderung: In distanziert dokumentarischem Stil erzählt Nils Tavernier die Geschichte eines Vaters, der alles daransetzt, einen Ironman zusammen mit seinem gelähmten Sohn zu bestreiten
Wahre Geschichten, die zeigen, wie Menschen mit einem Handicap über sich hinauswachsen, sind schon immer publikumswirksam gewesen. Filme wie »Mein linker Fuß«, »Rain Man« oder jüngst »Ziemlich beste Freunde« machen zwischen Mitgefühl und Humor eine besondere Art der Sentimentalität akzeptabel. Die Tränen, die dabei fließen, sind nicht peinlich. Auch »Mit ganzer Kraft« ist so ein Film. Mit wenigen Worten erzählt er die Geschichte von Paul und seinem gelähmten Sohn Julien, die gemeinsam einen Ironman bestreiten, einen Wettbewerb des Ausdauersports, bei dem man 3,8 km schwimmen, 180 km Rad fahren und einen Marathon laufen muss.
Inzwischen gibt es den Ironman in über 30 Ländern, der wichtigste aber findet einmal im Jahr in Hawaii statt. Nach einem kurzen Kampf mit den Behörden um die Starterlaubnis und einem langen gegen die eigenen körperlichen Schwächen gehen Paul und Julien in Nizza an den Start. Paul zieht beim Schwimmen ein Schlauchboot hinter sich her, hat einen Karbonsitz für Julien auf sein Fahrrad montiert und schiebt ihn im Rollstuhl 42 km die Straße entlang. Hier geht es tatsächlich nicht darum, zu gewinnen, sondern zu bestehen. 16 Stunden haben sie Zeit, dann werden sie disqualifiziert.
Warum, so fragt man sich, sollte ein Mensch solch eine Strapaze auf sich nehmen? Die Antwort findet sich nicht in einem wie auch immer gearteten »Weil«, sondern in der Menge der Teilnehmer: Mehrere Tausend stürzen sich in den frühen Morgenstunden ins Wasser wie Pinguine auf der Flucht, und nur einige Hundert kommen am Ziel an. Mit einem unbeschreiblichen Gefühl. Das Ganze aber zu zweit, mit einem mehr oder weniger hilflosen Beifahrer zu bestreiten, grenzt an Wahnsinn. Und es ist genau diese Grenze, die aus der Alltäglichkeit eine Geschichte macht, die zu erzählen sich lohnt.
Regisseur Nils Tavernier, selbst Schauspieler und Sohn des berühmten Bertrand Tavernier, hat sich für eine distanzierte Sichtweise entschieden, die jedoch gleichermaßen konzentriert und fokussiert bleibt. Paul (Jacques Gamblin) hat seine Arbeit verloren, und in seiner Ehe kriselt es. Julien (Fabien Héraud) leidet unter der Abwesenheit seines Vaters und hat sich zum ersten Mal in ein Mädchen verguckt, jedoch noch kein Wort mit ihm gesprochen. Der Ironman soll und wird all das ändern.
Viel passiert nicht in diesem Film. Grandios aber sind die Fahrten durch die französischen Berge, das Training über täglich mehrere Stunden und der feste Wille, etwas Außergewöhnliches zu leisten. »Mit ganzer Kraft« ist ein Film, der denen, die als Letzte durchs Ziel gehen, förmlich ein Podest baut mit rührenden Bildern. Tavernier hält die Balance, setzt Musik sparsam und wirkungsvoll ein und verlässt sich auf die Binnenspannung seiner Geschichte. Auf zusätzliche Konflikte oder Hindernisse verzichtet er. Diese klare Struktur unterstützt die durchweg sympathische Wirkung des Films: Man war für einen kurzen Moment mit ganzer Kraft dabei. Das ist schon eine ganze Menge.
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