Kritik zu Doch das Böse gibt es nicht
Im Iran unter dem Radar der Zensur entstanden: Mohammad Rasoulof, mit Berufsverbot und Hausarrest belegt, bekam für seinen Episodenfilm, dessen vier Teile die Todesstrafe verhandeln, den Goldenen Bären
Das Auto ist ein unverzichtbares Requisit im iranischen Kino der letzten Jahrzehnte. In den Filmen von Abbas Kiarostami, Jafar Panahi und anderen spielt es eine tragende Rolle. Es transportiert immense symbolische Last, dient gleichermaßen als Refugium einer unbeherrschten Privatsphäre wie als Vehikel einer zumindest topographischen Freizügigkeit. Auch für Mohammad Rasoulofs neuen Film ist es elementar.
Autofahrten sind das strukturierende Element seiner ersten und vierten Episode; die zweite endet mit einer rauschhaften Eskapade. Gewiss, es kommen auch andere Fortbewegungsmittel vor: Eine Zugfahrt eröffnet die dritte und die Ankunft an einem Flughafen die nachfolgende Episode. Sie spielen eine untergeordnete Rolle als Auftakt einer Bewegung, die jeweils von der Stadt in die Berge führt. Auch in einem Film, der von dem Finalen handelt, ist Mobilität also möglich und mit ihr auch ein Quantum individueller Freiheit. Rasoulof setzt damit Lebenszeichen. Allerdings zeigt das letzte Bild seines Films eine Landschaftstotale, in der ein Wagen auf offener Straße stehen bleibt.
Die Todesstrafe besitzt im iranischen Kino eine weit geringere, praktisch überhaupt keine Sichtbarkeit. Dabei gehört auch sie zum Alltag in einem Land, wo jährlich mehr Menschen hingerichtet werden als in jedem anderen auf der Welt mit Ausnahme der Volksrepublik China. Mithin bricht Rasoulof hier eine Art stillschweigendes Bildverbot. Er nähert sich dem Tabuthema Todesstrafe auf unterschiedlichen Wegen, doch stets bleibt es unausweichlich. Die Vollstreckung eines Todesurteils zeigt er nur einmal, auf durchaus sarkastische Weise – in einer Einstellung, die somit zweifach schockierend wirkt. Wenn sie in den anderen Episoden zur Sprache kommt, fungiert sie als Pointe, oder freundlicher gesagt: als Wendepunkt der Erzählung.
In keiner seiner Geschichten tauchen Juristen auf, die während eines Prozesses vor ethischen Konflikten stehen, auch das Martyrium der Verurteilten oder ihrer Angehörigen schildert er nicht. Diese Identifikation könnte ein Filmemacher, der selbst mit einer Haftstrafe belegt ist, leicht finden. Aber die Perspektive, die er wählt, ist die derjenigen, die ein Urteil vollstrecken sollen, dies tun oder sich dem Befehl verweigern. In »Doch das Böse gibt es nicht« sind es hauptsächlich Angehörige des Militärs, denen diese Aufgabe zufällt. Während der Berlinale-Pressekonferenz wurde der Film deshalb von einem iranischen Journalisten als unrealistisch kritisiert: Dies sei heute nicht (mehr) der Fall. Rasoulofs überraschte Produzenten entgegneten, der Film spiele gar nicht im Iran der Gegenwart, sondern sei als Parabel gemeint. Ersteres wird insgeheim nicht im Sinne des Regisseurs gewesen sein, dessen Arbeiten stets Aktualität besitzen; zweiteres trifft indes sehr wohl zu, denn im Widerspruch zwischen Gehorsam und Verweigerung (sowie den Konsequenzen, die sich daraus ergeben) verdichtet Rasoulof ein Klima durchdringender Repression. Ändert es etwas, wenn ein System des Justizmordes sich nur anders organisiert?
Es geht dem Regisseur und Drehbuchautor um die Verantwortung des Individuums, das sein Handeln rechtfertigen muss. Drei seiner Protagonisten stehen (oder standen) als junge Rekruten in einem sozialen und hierarchischen Umfeld, das die Legitimität der verhängten Urteile nicht infrage stellt. (Zuweilen fühlt man sich an einen absurden Dialog aus der Hinrichtungsszene in Godards »Alphaville« erinnert, wo die Frage »Was haben sie denn getan?« mit »Sie wurden verurteilt« beantwortet wird.) Die Gesetzgebung im Iran beruht jedoch nicht auf dem Prinzip der Gleichwertigkeit von Tat und Strafe: Mit dem Todesurteil wird nicht nur Mord, sondern ein ganzer Katalog von Delikten geahndet, zu dem Ehebruch, Gotteslästerung, Drogenhandel und politische Vergehen gehören. Die dritte Episode, in der ein Dissident betrauert wird, gewinnt besondere Brisanz, weil sie die Todesstrafe als Strategie der Einschüchterung und der Selbstbehauptung des Regimes kenntlich macht.
Die episodische Struktur wirft im Verlauf des Films zunehmend Probleme auf. Sie liegen weniger darin, dass sie kein neues Licht auf das Vorangegangene werfen würden. Sie kommunizieren durchaus miteinander. Mehrfach klingt der Traum, den Iran zu verlassen, als Motiv an; zweimal wird »Bella Ciao« gesungen (nicht als der Partisanensommerhit in Europa, sondern als die Hymne der »Grünen Revolution« von 2009). Mulmig macht vielmehr der Eindruck, Rasoulof würde in den vier Segmenten verschiedene Varianten seines Themas durchdeklinieren: bekümmert, aber eben auch raffiniert. Es liegt eine gewisse Kälte darin, wie er jeweils ein Dilemma konstruiert, um daraus Suspense zu entwickeln. Einmal kehrt er das vertraute Motiv der Begnadigung in letzter Minute geschickt um, zweimal überführt er seine Konflikte in die Sphäre des Melodrams. Ist es nicht verräterisch, dass man so oft auf Zahlenspiele verfällt, um seinen Film in den Griff zu bekommen?
Derlei Arithmetik kompromittiert Rasoulofs erzählerische Haltung nicht mehr und nicht weniger, als es die dramaturgischen Winkelzüge von liberalen Hollywoodthrillern über die Todesstrafe tun. Sie ist unzweifelhaft humanistisch. Er blickt auf die massive und auf die schleichende Verrohung, die eine Gesellschaft erfasst, wenn sie auf diese Form der Sühne zurückgreift. Rasoulof würde seine Figuren gern gegen dieses Gift in Schutz nehmen. Er beharrt auf der Möglichkeit des »Nein«, die auch einem Befehlsempfänger offensteht. Allerdings, und das ist weniger ein Zeichen von Geschick als von wehmütiger Hellsicht, bleibt unbestimmt, ob auch die Verweigerer wirkliche Gegner der Todesstrafe sind. Erst einmal geht es ihnen darum, sich nicht selbst schuldig zu machen: ungeachtet der Gewissenskonflikte, die sie anderen damit aufbürden. Rasoulof macht es seinem Publikum nicht leicht, er entlässt es nicht in Gewissheiten. Nur eine Figur spricht sich offen für die Ehrfurcht vor dem Leben aus. Aber sie lebt im Exil.
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