Globalität – Wie lässt sich Welt erzählen?
»The World« (2004)
Das Kino reist, seit es erfunden wurde. Was nicht immer heißt, dass die Filme auch da gedreht sind, wo sie spielen. Gerhard Midding über Versuche, das Große und Ganze, kurz: das Globale, in den Blick zu nehmen
Der Film, der in diesem Frühjahr die Spitzenplätze auf den Streamingplattformen einnahm, fängt mit einer leisen Warnung an: einem Husten, aus dem Off. Fortan ist der Kamerablick in Steven Soderberghs »Contagion« (2011) manisch, fast enzyklopädisch auf Alltagsobjekte fokussiert, die potenzielle Überträger sind: Türklinken, Handys, Liftschalter.
Das ist die Mikroperspektive des Seuchenthrillers. Ihr steht ein weltumspannendes Panorama der Verheerung gegenüber. Es nimmt seinen Anfang mit einer Fledermaus, die in China von einem Baum stürzt, der auf Geheiß einer US-Firma gefällt wird, setzt sich fort auf einem chinesischen Markt und gelangt von dort aus nach Hongkong, Tokio, London, Minneapolis und Genf. Die Schauplätze sind durch die Ausbreitung eines Virus miteinander verknüpft, aber auch durch die internationalen Anstrengungen, einen Impfstoff zu finden. Sonst retten einzelne Wissenschaftler im Kino die Welt, in »Contagion« sind es kooperierende Teams, die das Schlimmste verhindern wollen.
Auf der Leinwand rücken die Kontinente durch Migration, Handel, Kolonialismus oder Missionierung zusammen. Auch das ist eine Anstrengung: Das Kino ringt um die Erzählbarkeit des Weltganzen. Oft findet es nur private Verknüpfungspunkte, etwa den Wunsch des schwulen Paares in »Happy Together« (Wong Kar-wai, 1997), von Hongkong nach Buenos Aires auszuwandern, um der Beziehung neuen Elan zu geben. »To the Wonder« (Terrence Malick, 2012) spielt zwar in Oklahoma, ist aber der einzige Spielfilm, in dem man das Innere der Kirche von Mont-Saint-Michel sieht.
Einige Genres sind für weltumspannende Erzählbögen prädestiniert, der Science-Fiction-, Spionage-, Abenteuer- und der Kriegsfilm. Aber kein Netz ist so dicht, wie jenes, das ein Virus über die Welt legen kann: »Planet der Affen: Prevolution« (Rupert Wyatt, 2011) endet damit, dass ein Blutstropfen aus der Nase eines Piloten auf den Boden einer Flughafenhalle fällt. Der Abspann zeigt mit einer gelben Linie seine Flugrouten auf einer Weltkarte an. Immer neue Linien kommen hinzu, bis der gesamte Erdball von ihnen überzogen ist.
Früher fingen Filme oft mit Ansichten von Landkarten an. Heute scheint das nicht mehr nötig, aber diese erloschene Konvention war triftig. Die Entwicklung der Kartografie lässt sich mit der des filmischen Bildes der Welt vergleichen: Beide bilden nicht ab, sondern erzählen. Sie zeigen dem Betrachter, wie die Welt funktioniert. In ihrer ersten, rudimentären Form sind diese Bilder aus Anschauung und Mutmaßung geformt, sodann erweitern sie sich durch Entdeckungsreisen, um endlich und bestenfalls zu Detailgenauigkeit zu gelangen. Die Bilder sind von Vorurteilen geprägt, enthalten haarsträubende Verzerrungen, dienen nationaler Identitätsstiftung oder sind strategisch ausgerichtet. Sie haben Platz für erfundene, erträumte Orte: Lubitsch ließ seine Komödien gern in Ländern spielen, die auf wahrheitsgetreuen Karten nicht zu finden sind.
»Der Untergang des Römischen Reiches« (Anthony Mann, 1964) führt vor Augen, wie deckungsgleich dessen Ausdehnung damals mit der Weltvorstellung seiner Herrscher und Untertanen war. Diese Vorstellung blieb ein Jahrtausend lang intakt. Zunächst durch gewaltsame Eroberung und danach durch umsichtige Politik geschmiedet, ist das Imperium ein stabiler Verbund mit sicheren Handelswegen.
Als die Handlung im Jahr 180 n. Chr. einsetzt, hat das Imperium seinen Scheitelpunkt erreicht. Dank der Pax Romana ist es ein Vielvölkerstaat eigenständiger Kulturen – Cäsar Marcus Aurelius (Alec Guinness) kann die Länder und Regenten, die ihm eingangs Tribut zollen, längst nicht mehr alle beim Namen nennen –, der unterschiedliche Klimazonen umfasst und nur noch an zwei Grenzen Kriege führt: gegen die Germanen im Norden und Persien im Süden. Danach zerbricht die Utopie von Einheit.
Die Imperien, die zeitgleich oder später auf anderen Kontinenten entstehen, haben einen Begriff davon, dass hinter dem Horizont kein Nichts, sondern weitere Handelswege oder zu erobernde Länder liegen. Auf Reisen, Expeditionen oder Feldzügen wird das Bekannte dem Unbekannten gegenübergestellt. Meist ist die Erzählperspektive europazentriert. Aber die Begegnung der Kulturen ist im Kino keine Einbahnstraße. In »Der 13te Krieger« (John McTiernan, 1999) folgt ein arabischer Dichter und Gelehrter einem Trupp von Wikingern bis zur Donau. »Der Mongole« (Sergej Bodrow, 2007) handelt von den Eroberungszügen Dschingis Khans. In »Sultan Saladin« erzählt Youssef Chahine 1963 von den Kreuzzügen aus der Sicht des gleichnamigen ägyptischen Sultans.
Auch in Filmen, die während des Kolonialzeitalters spielen, kann bereits die Idee eines gedeihlichen, nicht ausbeuterischen Austauschs auf den Plan treten. »Der Barbar und die Geisha« (John Huston, 1958) handelt vom ersten amerikanischen Generalkonsul in Japan, der gegen Ende des Edo-Zeitalters auf eine Öffnung des abgeschotteten Landes dringt: Globalität braucht freie Räume. In John Milius' »Der Wind und der Löwe« (1975) hingegen spielt die Diplomatie eine untergeordnete Rolle: Milius zeigt, wie die USA unter Theodore Roosevelt Geschmack an der Kanonenboot-Politik findet und sich auf die Rolle des Weltpolizisten vorbereitet: Säbelrasselnde Militärinfanteristen können es im Marokko des Jahres 1904 kaum abwarten, die gesamte Welt in einen Krieg zu stürzen. Der Kausalkette der Bündnistreue, die zehn Jahre später tatsächlich den Ersten Weltkrieg auslöst, spüren »Lawrence von Arabien« (David Lean, 1962) und »Gallipoli« (Peter Weir, 1981) auch in Regionen nach, die weit von Europa entfernt liegen. In Weirs Film wollen zwei junge, australische Patrioten am fernen Krieg teilnehmen. In einer Szene versuchen sie, einen Farmer davon zu überzeugen, dass sie auch das Outback gegen den deutschen Kaiser und seine Verbündeten verteidigen müssen. Der Farmer blickt skeptisch auf die trostlose Wüste und sagt: »Können sie gern haben.«
Eine schöne Legende besagt, dass die amerikanischen Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs Länder in Übersee mit eigenen Augen gesehen hatten, sich danach nicht mehr mit den Studiokulissen Hollywoods zufriedengeben mochten. Sie durchschauten, dass es dieselben Dekors waren, die, geringfügig verändert, Budapest oder Schanghai darstellen sollten. Der Kamerablick musste mobiler, umfassender werden.
Die in den 1950er Jahren aufkommenden Breitwandformate geben ein Versprechen größerer Welthaltigkeit aus. Ein Film wie »In 80 Tagen um die Welt« (Michael Anderson, 1956) löst es, an 112 Realschauplätzen in 13 Ländern gedreht, hinreichend monumental ein. Die Reiseroute von Phileas Fogg führt, mit Ausnahme von Europa und Japan, durch das Sicherheitsnetz (ehemaliger) britischer Kolonien. In der Eile reicht es zudem nur zum touristischen Blick; immerhin ist ihm die Telegrafie schon auf den Fersen. Derlei Schaulust ist nicht nur eine Frage der Ideologie, sondern natürlich des Budgets. »Tokio Story«, 1955 von dem (besonders Asien) aufgeschlossenen Sam Fuller gedreht, profitiert zwar von Realschauplätzen in Japan, sieht in den Innenszenen aber wie ein Chinarestaurant aus. Das Nazideutschland seines Kriegsfilms »Verboten« (1959) ist komplett bei RKO entstanden. Oft wirkt die Welt im US-Genrekino wie ein ausgelagertes Amerika. Internationalität bleibt dennoch ein kommerzielles Gebot, das etwa Howard Hawks' Großwildjägerfilm »Hatari!« (1962) durch seine Handlung, den Schauplatz Afrika und eine ausgesucht europäische Besetzung einhält; »Grand Prix« (John Frankenheimer, 1966) nimmt mit Toshirô Mifune zudem den japanischen Markt in den Blick. Die 1960er werden auch in Europa zu einem Jahrzehnt des Jetset-Kinos; nicht nur mit der James-Bond-Reihe. Die Komödien, die Philippe de Broca ab »Abenteuer in Rio« (1964) mit Jean-Paul Belmondo dreht, zeigen, dass das Kino mit der weltumspannenden Entdeckerfreude zumal des franko-belgischen Comics (»Tim und Struppi« ist eine Inspirationsquelle) mithalten will. Eines der großen Versäumnisse des Kinos besteht freilich darin, dass es sich nie ernsthaft um eine Mythisierung der Weltpolizei Interpol bemüht hat. In der westlichen Hemisphäre tritt ihr Wirken hinter dem nationaler Geheimdienste zurück – »The International« (2009) von Tom Tykwer ist eine wenig heroische Ausnahme –, während in Asien mit Bruce Lees Actionfilmen eine beträchtliche Faszination aufflammt.
Kosmopolitisches Flair kann sich natürlich auch in der Konzentration auf einen Schauplatz einstellen, in einem Zug, Flughafen, Hotel, auf einem Passagierschiff oder während eines Kongresses. Diverse Agatha-Christie-Verfilmungen schöpfen aus dieser Einhegung (das Personal ist überwiegend angloamerikanisch) an exotischen Schauplätzen postkoloniales Spannungspotenzial. Sie zielen auf behagliche Nostalgie; Vernetzung ist ihre geringste Sorge. Die Umrundung der eiszeitlichen Welt im Zug, von der Bong Joon-ho 2013 in »Snowpiercer« erzählt, hat einen ambitionierteren Radius: Sie ist das Kondensat einer auch in der Katastrophe noch unerbittlich hierarchischen Klassengesellschaft.
Der mit touristischen Wahrzeichen aus aller Welt drapierte Freizeitpark außerhalb von Peking wiederum, in dem Jia Zhang-ke 2004 »The World« angesiedelt hat, dient als Metapher der Entwurzelung. Er ist ein spröder, unwirtlicher Nachfahre der Weltausstellungen, die einen globalen Zusammenhang simulieren, der Jahrzehnte lang noch kolonial oder imperial grundiert war: ein Spektakel verblüffender, aber übersichtlicher ethnografischer Nachbarschaft sowie des technologisch-ökonomischen Fortschritts.
Dass von einem entrückten Ort und aus sicherer Entfernung auf die Welt zugegriffen werden kann, hat auch die Kriegsführung verändert. In einer Schlüsselszene von »Die Stunde der Patrioten« (Phillip Noyce, 1992) verfolgen der CIA-Analyst Jack Ryan und einige Geheimdienstkollegen per Satellit, wie eine Terroristenzelle in einer nordafrikanischen Wüste ausgelöscht wird. Die Szene nimmt das berühmte Foto von Barack Obamas Kabinett, das 2011 gebannt die Liquidierung Osama bin Ladens verfolgt, vorweg.
Der erste Golfkrieg, der die Illusion eines »sauberen«, Kollateralschäden vermeidenden Krieges genährt hatte, war beim Start von »Die Stunde der Patrioten« gerade ein Jahr vorüber. Nachdem das Kommandounternehmen abgeschlossen ist, herrscht beklommenes Schweigen im Raum. Die Geheimdienstler sind verblüfft, wie entrückt das Schauspiel des Tötens sein kann. Bei aller klinischen Präzision der Operation empfinden sie kein Gefühl von Entlastung oder Triumph.
Seither haben Überwachungstechnik und Kriegshandwerk so rasante Fortschritte gemacht, dass die Diskussion über ihre ethische Zulässigkeit kaum mithalten konnte. In »Der Mann, der niemals lebte« (Ridley Scott, 2008) haben sie einen Standard erreicht, der es erlaubt, jede Bewegung auf der Welt zu observieren. Scotts Thriller handelt vom Krieg der CIA gegen ein Terrornetzwerk im Nahen Osten; Leonardo DiCaprio führt ihn an vorderster Front, sein Einsatzleiter Russell Crowe lenkt in Langley seine Schritte. Überwachung und Kontrolle sind für Scott vor allem ein Schauwert; die kinetische Bildwirkung ist seinem Kino schon Botschaft genug. Und in der Tat ist die Verfügbarkeit der Welt ein berauschendes, tückisches Sujet für einen Spionagethriller.
Es ist heute fast vergessen, aber die Vereinten Nationen vergaben einige Jahrzehnte lang einen Filmpreis. Er wurde zwischen 1947 und 1977 während der Zeremonie der Britischen Filmakademie vergeben. Ausgezeichnet werden sollten Werke, die humanistische Werte mustergültig verkörpern. Zu den Gewinnern zählten »Flucht in Ketten« und »Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben«. 1957 ging der United Nations Award an die französisch-italienische Coproduktion »TKX antwortet nicht«. Christian-Jaques Film läuft gelegentlich auf arte; er erzählt von einem französischen Fischdampfer vor der norwegischen Küste, auf dem eine rätselhafte Krankheit ausbricht. Als die Notrufe des Schiffs nicht gehört werden, weicht der Funker auf einen Kurzwellensender aus. Während die Mannschaft darniederliegt, empfängt ein Amateurfunker in Togo das Signal. Die fernmündliche Diagnose eines Tropenarztes lautet: Botulismus. Ein Amateurfunker in Paris besorgt das Serum aus dem Pasteur-Institut und soll es per Luftfracht über München nach Oslo schicken. Das Drehbuch, ausgerechnet von dem Misanthropen Henri-Georges Clouzot geschrieben, ist eine Hymne auf spontane Solidarität. Lauter Leute, die sich nie gesehen haben, reichen sich die Hände, um eine Kette zu bilden. Der Münchner Amateurfunker ist ein Kriegsblinder (Matthias Wieman bedankt sich für die Ehre mitzuwirken: eine Versöhnungsgeste ehemaliger Gegner), selbst der Eiserne Vorhang wird kurzzeitig zerrissen, als das Serum versehentlich in der sowjetisch besetzten Zone landet und ein verständiger Militär den Ernst der Lage erkennt. Auf dem Schiff wird derweil ein Rassist bekehrt. Ein marokkanisches Besatzungsmitglied ist nicht erkrankt, weil es kein Schweinefleisch isst, und rettet in letzter Minute die Kameraden. Utopisch, gewiss, aber auch ein spannendes Kabinettstück, wie die Welt funktionieren könnte.
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