Kritik zu Nuestro tiempo

© Grandfilm

2018
Original-Titel: 
Nuestro tiempo
Filmstart in Deutschland: 
27.06.2019
L: 
175 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Eine Ranch, eine offene Ehe und das rätselhaft-widersprüchliche Zusammenwirken von Kunst und Leben: Carlos Reygadas neuer Film bringt persönliches Drama mit wie für sich stehenden Kinobildern zusammen

Bewertung: 4
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Das Wasser des Stausees im Norden von Mexiko ist schlammig, doch die Kinder stört es nicht. Die Jungen tollen mit einem Gummiboot herum; die Mädchen reden und suchen die bunten Perlen einer gerissenen Kette. Unweit flirten Teenager; dann schwenkt die bewegliche Kamera zu den Erwachsenen auf einer großen Farm, Eltern, Angestellten und Gästen. Mit den ersten Sequenzen etabliert der Regisseur Carlos Reygadas, worum es in seinem neuen Film »Nuestro tiempo« geht: Um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, aber auch um verschiedene Arten von Kommunikation, verbaler und physischer.

Im Mittelpunkt des Geschehens stehen Ester und ihr Mann Juan, die in einer offenen Ehe leben. Auf ihrer Farm züchten sie Stiere für den Stierkampf. Reygadas folgt zunächst Ester, die, zu Pferd, ein junges Tier auf seine Tauglichkeit für die Arena hin testet. Der Stier wird gereizt, dem Pferd sind die Augen verbunden, damit es das wütende andere Tier nicht sieht. Über Sprechfunk gibt Ester der Hausangestellten Anweisungen für die Betreuung der Kinder. Die anderen Erwachsenen trinken derweil etwas und unterhalten sich – absichtslos scheint die Kamera das Geschehen einzufangen in Bildern von großer Schönheit. Jedes könnte für sich selbst stehen: das Abendrot zwischen Bäumen, die Ansicht eines Stiers auf der Weide vor Sonnenaufgang, Reflexionen von Gesichtern in Fensterscheiben oder Spiegeln, immer wieder Plansequenzen, majestätische Totalen. Doch plötzlich offenbart sich drastische Gewalt, als der junge Stier mit seinen Hörnern einem Maultier die Eingeweide herausreißt. Und auch in die Gespräche zwischen Ester und Juan, der Dichter ist, schleicht sich Gereiztheit, als klar wird, dass Ester ein gewisses Interesse hegt am »Gringo« Phil, der auf der Farm aushilft.

Die parallelen Motive von wilden Tieren und Menschen, die ihre Triebe ausleben, mögen etwas zu symbolisch anmuten, als dass man Reygadas jüngste Regiearbeit völlig rückhaltlos bewundern könnte. Zumal der Regisseur den Künstler Juan selbst verkörpert, was halb autoreflexiv und halb selbstironisch anmutet. Die offene Ehe ist für Juan eine Quelle der Inspiration. Er braucht das Drama im Alltag, um schreiben zu können. Dieser Dichter ist ein Parasit, der sich in den Erfahrungen anderer einnistet, seine Umwelt aber gleichzeitig kontrolliert und manipuliert. Sein Voyeurismus – und der Voyeurismus der Kamera und des Mediums Film – geraten mehrfach ins Bild. Ob das, was sich zwischen Ester (gespielt von Reygadas’ Ehefrau Natalia López) und Phil abspielt, nun Juans eifersüchtigen Fantasien entspringt oder ob es tatsächlich so geschieht, bleibt einige Zeit in der Schwebe, wenn Juan Ester nachspioniert, indem er etwa heimlich ihre SMS-Nachrichten liest.

Kurznachrichten, Telefonate, Briefe, E-Mails, Skype-Anrufe und Gespräche von Angesicht zu Angesicht markieren nicht allein verschiedene Formen von Kommunikation, sondern auch den Status der Kommunizierenden. Es geht darum, wer sich mit wem verständigt, wie unterschiedlich das jeweils ausfällt (bei Männern unter sich werden Tonfall und Inhalte völlig umgeschaltet) und wessen Stimme letztlich gehört wird. Dabei spielt Reygadas, das liegt in der Natur der Sache, mit diversen stilistischen Ausdrucksformen. Die Eskalation des Konflikts zwischen Ester und Juan mündet schließlich in eine Metaebene: Wenn eine Kinderstimme aus dem Off die Erfahrungen und Gefühle als bereits literarisiert vorträgt, wenn Gezeigtes und Gesagtes voneinander abweichen, ist die Realität in der Fiktion aufgehoben.

»Nuestro tiempo« zeichnet das Porträt einer Ehe in der Krise und das Psychogramm eines Künstlers, letzteres auch in kulturellen Verweisen. Der Film lässt sich wohl auch als recht persönliche Familienaufstellung begreifen und sein Titel auf die Endlichkeit jeder Gegenwart beziehen. Vor allem aber feiert Nuestro tiempo in Reygadas eigener Autorenart das schöne, große Kinobild.    

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