Der Familienfilm: Ins Kino. Zusammen!
»Mary Poppins' Rückkehr« (2018). © Walt Disney
Das Familienkino – stirbt es aus? Umzingelt von Superhelden, überfrachtet mit Effekten und Zitaten, scheint das Genre aktuell in der Krise zu stecken. Birgit Roschy plädiert für ein altes, nicht zu unterschätzendes Vergnügen
Ein Familienfilm, so darf man den Begriff wohl interpretieren, ist ein Film, den die ganze Familie gemeinsam im Kino sieht. Der Tag des familiären Kinogangs ist zumindest in Deutschland traditionell in den Weihnachtsferien angesiedelt, gern am zweiten Feiertag, vielleicht nach einem Verwandtenbesuch. Gemäß der subjektiven Erinnerung ist ein Familienfilm ein Ereignis, für das die Familie aus dem durch mehrgängige Menüs und Plätzchen hervorgerufenen Verdauungskoma bei zumeist unwirtlichem Wetter ins zumeist rappelvolle Kino aufbrach und bei dem die Eltern eine Menge Geld lockermachten, nicht nur für Eintritt, auch für Gummibärchen und Limo; ein Film also, der es für alle »bringen« musste. Bestand doch die verführerische Alternative darin, bei der »Augsburger Puppenkiste« oder »Drei Nüsse für Aschenbrödel« gemütlich vorm Fernseher zu lagern.
Eine Handvoll Filme schaffte es tatsächlich, »Jung und Alt« nachhaltig zu begeistern und zu Klassikern aufzusteigen. Der großartigste Familienfilm aller Zeiten ist »Das Dschungelbuch« (1967), ein von Rudyard Kiplings Erzählungen inspiriertes Zeichentrickmärchen. Darin wird ein Findelkind von wilden Tieren aufgezogen und kehrt als Junge, von einem Dorfmädchen gelockt, zu den Menschen zurück. Diese Initiationsgeschichte ist mit ihrem bittersüßen Witz und musikalischen Schmiss, ihren originellen Charakteren und ihrer Farbenpracht bisher unerreicht. Hinreißende Gesamtkunstwerke in Cinemascope und Technicolor sind etwa auch die Filmmusicals »My Fair Lady«, ein modernisiertes Aschenputtelmärchen mit der umwerfenden Audrey Hepburn, und »Mary Poppins« mit Kindermädchen Julie Andrews als gute Fee.
When Disney ruled the world
Das Monopol auf Familienfilme und besonders den »Weihnachtsfilm« behaupteten aber jahrzehntelang die Walt-Disney-Trickfilmkünstler. Beginnend 1937 mit »Schneewittchen und die sieben Zwerge« lieferte Disney alljährlich Zeichentrick– und später computeranimierte Filme, die, erst recht nach der Union mit Pixar 2006, sowohl inhaltlich als auch technisch und ästhetisch Standards setzten, von »Cinderella« bis »Aristocats«, von »König der Löwen« bis »Die Eiskönigin – Völlig unverfroren«, um nur einige zu nennen. Von Pixar kamen etwa »Findet Nemo«, die »Toy Story«-Reihe, »Ratatouille« und als 2017er Weihnachtsfilm »Coco«.
Zur diesjährigen Weihnachtssaison aber zeigt Disney (Pixar hat sein Pulver bereits mit »Die Unglaublichen 2« verschossen) statt eines Animationsfilms die um mehrere Ecken neu gedachten Ausstattungsmärchen »Der Nussknacker und die vier Reiche« und »Mary Poppins' Rückkehr«. In einer nostalgischen Beschwörung des Originals müssen im Poppins-Film, ähnlich wie zuletzt in »Christopher Robin«, die nun erwachsenen Kinder mit Hilfe ihrer einstigen Zauber-Nanny ihre Lebensfreude wiederentdecken. Ansonsten finden sich im Weihnachtsfilmangebot mit »Phantastische Tierwesen 2« ein weiteres »Harry Potter«-Spin-off, mit »Aquaman« eine weitere Figur vom Grabbeltisch des DC-Comic-Universums, mit »Spider-Man: A New Universe« eine überdrehte Animationskomödie, die das Spider-Man-Thema der Marvel-Comics variiert, sowie eine neue Trickfilmadaption von Dr. Seuss' in Deutschland relativ unbekanntem Kinderbuch »Der Grinch«: ein Überangebot von altem Wein in neuen Schläuchen. Und wo sich die vielen Filme einerseits kannibalisieren, ist andererseits keiner dabei, der für eine ganze Familie, besonders mit Kindern unter zehn Jahren, passend zu sein scheint. Der einzige Film, den man kleineren Kids zumuten möchte, ist das neu anlaufende »Tabaluga«-Animationsmärchen. Für Erwachsene aber ist diese Kinoadaption von Peter Maffays populärem Musical kaum irgendwie interessant.
Kommen Familienfilme aus der Mode? Filmwissenschaftler meinen, dass das Genre in Abgrenzung zum Kinderfilm erst in den achtziger Jahren erfunden worden sei, also in der Zeit des Videothekenbooms, als Filme nach Kategorien in die Regale sortiert werden mussten. Doch bereits Disneys »Schneewittchen« von 1937 war nicht »nur« ein Kinderfilm, sondern ein all age movie, das crossover, generationenübergreifend das Publikum begeisterte. »Family Entertainment«, so lautet eine akademische Definition, ist mehrfachadressiert und mit einem Hintersinn versehen, der Kindern verschlossen bleiben mag, doch Erwachsenen Anregung bietet. Ein deutsches Lehrbuch von 1966 meint, dass es sich beim Familienfilm um einen Film handele, »dessen in der Regel harmlose Konflikte so gewählt sind, dass auch Kinder der Handlung folgen können (ohne vielleicht alles zu verstehen), während Erwachsene sich allenfalls milde langweilen«. Da trieft die überhebliche Ironie des Verfassers über die naiven Kinderseelen und ihre Eltern, die diesen Kitsch mit ansehen müssen, aus allen Buchstaben.
Zwei Generationen später ist es umgekehrt. Die Konflikte wurden ebenso dynamisiert wie die Handlung, die oft so hektisch daherkommt, dass statt der Kleinen, die das Tempo von Computerspielen gewohnt sind, die Großen verstört zurückbleiben. Und von wegen »milder Langweile«: Viele neuere Familienfilme scheinen pro forma auch an Grundschulkinder gerichtet, bedienen aber in ihren Anspielungen und auch mit ihrer Nostalgie vorwiegend die Sensibilitäten von Teenagern und Erwachsenen. Es sind Filme, die man ohne Gesichtsverlust auch ohne die Kinder oder kleinen Geschwister besuchen kann.
Das zeigen zum Beispiel die »Shrek«-Animationskomödien, in denen Märchenfiguren in großem Stil gegen den Strich gebürstet werden. Dabei wird beim Kinderpublikum die erste Verständnisebene – die quasi enzyklopädische Kenntnis jener Fabeln und Figuren, die in einem zweiten Schritt persifliert werden – einfach vorausgesetzt. Doch vor allem die »Shrek«-Fortsetzungen bleiben als Bauchpinselei einer mit popkulturellem Nerd-Wissen bis in die letzte Gehirnzelle zugedröhnten Zielgruppe in Erinnerung. Wie gut die fraglos lustigen Abenteuer des übergewichtigen Ogers bei der Ü30-Fraktion ankommen, zeigen etwa die Halloween-Kostüme von Heidi Klum. Und wo in »Shrek« die heile Märchenwelt durch besserwisserische Ironie dekonstruiert wird, da sind Märchen wie »Die Eiskönigin« und die Dornröschen-Variation »Maleficent« mit feministischen Botschaften exklusiv auf ein weibliches Publikum gepolt.
Die suche nach der existenziellen Nuss
Am ehesten entsprechen noch die leichtfüßigen »Ice Age«-Filme dem, so das Oxford Dictionary, decent and old-fashioned family entertainment. Hier verbinden sich komische Tiercharaktere und kindgerechter Ulk mit erwachsener Wissenschaft: Weltuntergänge durch Erderwärmung, Eiszeit, Meteoriten und Kontinentaldrift. Und nur »Ice Age« und die kindlich-anarchische »Ich, einfach unverbesserlich«-Serie haben es geschafft, neue Archetypen in die Popkultur einzuführen: Sisyphus Scrat, das von der Suche nach der existenziellen Nuss getriebene Säbelzahn-Eichhörnchen, und die Minions, kleine gelbe G'schaftlhuber zwischen kindlichem Sadismus und kreativer Bastelei.
Hoffnungslos passé sind Familienfilme in der harmlos-unbefangenen Art der Publikumshits der neunziger Jahre à la »Mrs. Doubtfire«, »Kevin – Allein zu Haus« und »Free Willy«. Damals als »seichte Unterhaltung« geschmäht, hatten sie so viele Fans, dass »Willy«, der Orcawal Keiko, mit Spendengeldern freigekauft wurde (und in freier Wildbahn bald einging). Kevin stieg zum beliebtesten Namen des Jahres 1991 auf (und führte, nachdem die Kevins ihre Schullaufbahn begonnen hatten, zur giftigen Wortschöpfung »Kevinismus«). Eine Klasse für sich war das epochemachende Epos »E.T.«. Steven Spielberg, ewiges Spielkind, inszenierte die Geschichte eines gestrandeten kindlichen Außerirdischen als allgemeingültiges Dilemma zwischen Fortgehen, Neue-Freunde-Finden und der Sehnsucht nach einem Zuhause.
Interessanterweise steht in der Komödie »Kevin – Allein zu Haus« zwar ein Achtjähriger im Zentrum. Doch freigegeben wurde sie ab 12: Der aufgeweckte Held wird von zwei fiesen Einbrechern bedroht und verteidigt sich – in fantasievoll brutaler Slapstickmanier. Da flackert die Erinnerung an die fiesen Piraten in dem ab 6 Jahren freigegebenen »Pippi in Taka-Tuka-Land« auf, die 1969 bei manchem Achtjährigen nächtelange Alpträume auslösten.
Heutigen Achtjährigen wäre es vermutlich oberpeinlich, angesichts der »Kevin«-Bedrohungsszenarien zu weinen. Toleranz und Akzeptanz von Gewalt im Film haben sich stetig erhöht – schon weil sich Kinder seit dem Aufkommen von Video in ihrem Mediengebrauch der elterlichen Kuratel entziehen können. Wer auf dem Quivive war, zog sich in den Achtzigern verbotene Zombie-Ware rein. Heute herrscht die paradoxe Situation, dass immer gouvernantenhafter darauf gepocht wird, keine gesellschaftliche Gruppe zu diskriminieren – auch »Das Dschungelbuch« steht mit seinem jazzenden Affenkönig King Louie unter Rassismusverdacht –, während Brutalität und Gewalt für Coolness und innovative Grenzüberschreitung stehen. »Maleficent« etwa, ab 6 Jahre freigegeben, ist voller Kriegsheere und expliziter Gewalt; die spätere böse Fee wird gar verstümmelt. Überhaupt werden Kinderfilme seit einigen Jahren von Zombies, Vampiren, Schlangenmonstern, Gremlins, Dämonen überschwemmt. Ungeheuer, einst die Domäne von Requisitenmachern, gelegentlich unfreiwillig komisch, aber eher in Horrorfilmen für Erwachsene stationiert, lassen sich via Computeranimation billiger, schneller und naturalistischer darstellen. Bei der »Harry Potter«-Reihe schlug die FSK trotzdem erst beim dritten Film mit der Freigabe ab 12 Jahren zu.
Ein Zug ins Morbide
Die Gewöhnung an eine detailliert gepixelte Monster-Menagerie hat neben der stürmischen Entwicklung der Computeranimation – sichtbar etwa im Dinosauriereinstiegsfilm »Jurassic Park«, der gerade noch als Familienunterhaltung durchgeht – vielleicht auch mit der Halloweenisierung zu tun. Die keltisch-angelsächsischen Halloween-Gespenster machen sich neben der zähnefletschenden Kürbisdeko eben auch im Horrorstil von Filmen bemerkbar. So ist das von Tim Burton produzierte musikalische Puppentrickmärchen »Nightmare Before Christmas« (1993), in dem Halloween-Geschöpfe das Weihnachtsfest heimsuchen, unbestreitbar liebenswürdig, aber auch unbestreitbar gruselig – und ab 6 Jahren freigegeben. Der wunderschöne Animationsfilm »Coco« (ab 6), als Weihnachtsfilm deklariert, dreht sich in der Variante des mexikanischen Dia de los muertos ebenfalls um die Halloweennacht. Und das Betrachten der Figuren, die zur Hälfte als Totenschädel in Kostümen auftreten, erfordert eine nicht geringe mentale Übersetzungsleistung, bei der man sich die Vorstellung abtrainieren muss, dass Skelette bedrohlich sind. Nichts für Angsthasen.
Doch was ist mit »wertigen« Ausstattungsepen wie einst »Mary Poppins«, mit den Verfilmungen ikonischer Kinderbücher, die einmal eine Leistungsschau nationalen Filmschaffens darstellten? Da gibt es etwa zwei bezaubernde britische »Paddington«-Abenteuer mit einem kleinen Bären im Zentrum, der von einer Londoner Familie adoptiert wird. In Deutschland zumindest floppten die von der Kritik gerühmten Filme. Vielleicht bezaubern diese zum Niederknien schön ausgestatteten und hintersinnigen Filme vor allem nostalgische Erwachsene und lassen Kinder eher kalt.
Den entgegengesetzten Weg ging Peter Jackson, der J.R. Tolkiens schmalen Kinderbuchklassiker »Der kleine Hobbit« zum »Hobbit«, einem Actionepos in drei Teilen, ummodelte. Wie bereits in seinen »Herr der Ringe«-Filmen lässt er in manchem Kopf-ab-Moment der Trilogie seine Herkunft als Low-Budget-Splatterfilmer aufblitzen. Die Freigabe erst ab 12 Jahren verwundert nicht, selbst wenn im Kino jüngere Kinder, sofern sie von ihren Eltern flankiert werden, auch zuschauen dürfen.
Nachdem in »Shrek« und anderwärts die Grimm'schen Märchen gründlich abgeräumt wurden, fließen kreative Energien und Budgets vorrangig in eine jüngere Sorte Märchen: Superheldencomics. Im Gegensatz zu traditionellen fairy tales sind diese jedoch mit ihren übernatürlich begabten und vorzugsweise männlichen Weltrettern inhaltlich banal, oder sollte man sagen: kindisch. Da nutzt es auch nichts, dass die Avengers und ihre Kollegen nicht nur mit Hightech-Action prunken, sondern zunehmend politisch aufgeladen werden und oft ein geradezu Shakespeare'sches Pathos ausdünsten müssen, um Mehrwert zu generieren.
Symptomatisch für die Entwicklung vom Familienfilm zu »Fantasy« im weitesten Sinne, die auf die Zielgruppen der Teenager, jungen und schließlich nicht mehr jungen Erwachsenen abzielt, ist »Star Wars«: Zu Anfang innovatives family entertainment, wurde die Serie immer düsterer und überladener. George Lucas selbst hielt »Star Wars« noch für ein Märchen: »Das Drehbuch könnte von den Brüdern Grimm stammen, zeitversetzt um einige Jahrtausende.« Vielleicht werden Kinder heute schneller erwachsen; auf jeden Fall aber werden Erwachsene kindischer, wie der Erfolg dieser Filme zeigt. So sind Fantasyfilme ab 12 Jahre ein Dorado für Berufsjugendliche bis zum Haarausfall geworden. Als Familienunterhaltung ist das wichtigtuerische Endschlachten-Gedöns der meisten Marvel- und DC-Titel nicht geeignet. Trotzdem ergreift der schon länger festzustellende Trend, Fantasy zu produzieren statt etwa zugkräftiger Erwachsenenkomödien, nun auch das Segment der traditionellen Familienfilme.
Vielleicht ist es ja an der Zeit, eingefahrene Wege zu verlassen und sich im »Family Entertainment« einem noch unentdeckten Kontinent zuzuwenden: der japanischen Anime-Kultur, die bisher noch ein Schattendasein fristet. »Prinzessin Mononoke« und andere japanische Märchenfilme bieten nicht nur in ihrer Ästhetik, sondern auch in ihrer inhaltlichen Verknüpfung von Magie und Poesie, Mensch und Natur etwas für Groß und Klein – und sind auch für die Cosplay spielenden Teenager in der Familie anschlussfähig.
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