Der alte Mann und das Kino
Er vergleicht das Kino mit einem »kleinen Katalonien, das um seine Existenz kämpfen muss« und findet, dass Filme das zeigen sollten, was »man nicht auf Facebook sieht«. Jean-Luc Godard, 87 Jahre alt, ist der große alte Mann des europäischen Kinos, einer der letzten Aktiven der Nouvelle-Vague-Generation und so sehr Legende, dass er noch nicht einmal selbst nach Cannes reisen muss, um das Festival in Atem zu halten. Ein Motiv aus seinem Film von 1965, »Pierrot le fou«, ist als offizielles Festivalplakat allgegenwärtig an der Croisette, sein neuester Film »Le livre d'image« läuft im Wettbewerb und im Unterschied zu 2014, als er mit »Adieu au langage« sogar den Jury-Preis gewann, stellte er sich in diesem Jahr auf einer Pressekonferenz den Fragen der Journalisten. Die allerdings hatte dadaistische Qualitäten: Jean-Luc Godard gab per Facetime auf einem iPhone Auskunft, das von einem Festivalmitarbeiter vor ein Mikrofon gehalten wurde. Entsprechend schillernd zwischen bedeutsamem Raunen und wohl formuliertem Nonsense fielen die Zitate aus.
In gleicher Weise funktioniert auch Godards neuer Film, »Le livre d'image«, in dem der Regisseur von »Außer Atem« das Drehen mit Schauspielern nun völlig für die Montage von »found footage« aufgegeben hat. »Gefunden« hat Godard sein Material dabei sowohl in den Filmarchiven mit Ausschnitten aus eigenen und fremden alten Filmen wie »Johnny Guitar« als auch auf YouTube. In einer der polemischsten und zugleich klarsten Sequenz des Films schneidet Godard Kino-Gewalt und ISIS-Videos gegeneinander. Der Szenenteppich wird untermalt mit Musikzitaten und mehreren Stimmen, darunter seine eigene, die oft ebenfalls erst im Abspann enthüllte Quellen zitieren. Geraunt wird da vom »Glück der Araber« und der Revolution, auf deren Seite man steht. Doch im Puzzle des Collagierens, in dem er mit der Qualität der Bilder, mit Formatwechsel, Überblendung, Entsaturierung und Tonschnitten spielt, verliert die politische Aussage sogleich wieder Kontur. Es ist, als nehme sich Godard heraus, endlich allen die Meinung zu sagen, über den Kapitalismus, die Araber, den Weltfrieden und -untergang, aber auf eine Aussage festlegen lassen möchte er sich auch nicht. So groß die Legende auch ist, für vor sich hinschimpfende alte Männer hat man auch an der Croisette nicht allzu viel Geduld: obwohl »Le livre d'image« mit 84 Minuten einer der kürzesten Filme des ganzen Festivals ist, verließ ein Großteil des Publikums in stetem Strom bereits vor Filmende das Kino.
Dass Godard trotz seiner Sympathien für die Revolution nicht zum aktuellen Schirmherr von Cannes taugt, führte der Frauenmarsch am nächsten Tag vor Augen, bei dem, angeführt von der diesjährigen Jury-Präsidentin Cate Blanchett, 82 Frauen für Gleichberechtigung in der Repräsentation demonstrierten. Die Zahl hat es in sich: nur 82 Regisseurinnen gegenüber 1688 männlichen Kollegen seien in 71 Jahren Cannes Filmfestival über den Roten Teppich gelaufen, benannte Blanchett in ihrer kleinen mit Agnès Varda zusammen gehaltenen Ansprache.
Drei Regisseurinnen (von insgesamt 21 Wettbewerbsfilmen) sind in diesem Jahr im Rennen, und das gilt angesichts der Statistik fast als Fortschritt. Mit Eva Hussons »Girls of the Sun« hatte der erste der »Frauenfilme« am Samstag Premiere und belegte die je nachdem beunruhigende oder optimistische These, dass auch Frauen fehlen dürfen. Husson erzählt nach wahren Motiven von einem kurdischen Frauenbataillon im Syrienkrieg, das sich aus ehemals gefangenen Frauen zusammensetzt. Das wenig inspirierte Drehbuch setzt auf melodramatische Effekte, indem es herausstellt, dass die Frauen Mütter sind und wenn sie zur Waffe greifen, es mit viel Gefühl tun. Die komplizierte politische Lage blendet Husson völlig aus und konzentriert sich ganz auf die persönlichen Schicksale ihrer Heldinnen. So vorhersehbar ist hier alles, dass man sich verführt fühlt, Godard doch noch Recht zu geben: Filme sollten von dem handeln, was nicht offensichtlich ist.
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