Paris braucht Liebe
Verzaubert eine Stadt die Menschen, die sie besuchen? Oder sind es umgekehrt die Menschen, die sie verzaubern? Ich vermute, die vorherrschende Meinung über Paris ist ziemlich eindeutig. Die Einwohner der Seine-Metropole werden gern als kühl und herablassend beschrieben. Der Besucher fragt sich, ob sie ihre Stadt überhaupt verdient haben.
Seit einiger Zeit ist ihr Selbstbewusstsein bekanntlich arg lädiert. Sie begreifen, dass sie sich selbst neu erfinden müssen, um das traditionelle Bild einer weltoffenen Stadt aufrechtzuerhalten. Nach den Anschlägen des letzten Jahres sind Hotelbuchungen und Museumsbesuche um 20 Prozent zurückgegangen. Die Reisewarnungen, die die US-Regierung nach wie vor für Europa ausgibt, wirken sich in Paris besonders aus. Dieser aktuelle Attraktivitätsverlust ist ein ökonomisches Desaster für Frankreich, wo der Tourismus ein maßgeblicher Wirtschaftsfaktor ist und rund zwei Millionen Menschen in Lohn und Brot setzt.
Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat nun einen Kampagne gestartet, um die Stadt wieder zu verzaubern. Als eine der ersten Maßnahmen gab sie bei dem Schauspieler und Regisseur Jalil Lespert (»Yves Saint-Laurent«) einen zweieinhalbminütigen Werbeclip in Auftrag. »Paris, je t'aime« ist ein einziger Taumel der Verzückung. Zu sehen sind lauter junge Leute, die sich vom Genius des Ortes berauschen lassen. Es bahnt sich eine Liebesgeschichte an, zwei Balettratten tanzen über die Freitreppe der Garnier-Oper und gleich darauf auf deren Dach. Alles ist atemlos schnell zum pulsierenden Rhythmus von Hyphen-Hyphens »Just need your love« geschnitten. Die Kaskade der Postkartenmotive und Hochgefühle wirkt wie einer dieser Clips, die man auf Youtube erst nach verdrießlich langen Sekunden überspringen kann.
Ich bezweifle, ob es eine dankbare Aufgabe ist, einen Film zu machen, der nicht erzählen, sondern repräsentieren soll. Lesperts Vorgaben waren vermutlich sehr genau: Er sollte eine junge, lebensbejahende und friedlich feiernde Metropole und zugleich die Diversität der Ethnien und geschlechtlichen Orientierungen beschwören. Muslime konnte ich in der Eile nicht entdecken. Die Stadt, die sich hier von ihrer besten Seite zeigen soll, muss sich nicht einmal neu erfinden. Lesperts (oder Hidalgos?) Paris besteht aus Wahrzeichen, Shopping, Modedefilees und Feuerwerken. Auch das verliebte Pas de Deux auf dem Eiffelturm fehlt nicht. Nur die Gastronomie kommt überraschend kurz. Ab November soll der Film auf allen Langstreckenflügen von Air France, in Hotels der Kette Accor und diversen Luxusgeschäften laufen.
Das ist sehr exklusiv gedacht, entspricht aber dem ästhetischen Radius des Films. Die zwei Gesichter, die Paris üblicherweise im Kino hat, verschmelzt er nicht. Er zeigt die monumentale Großstadt, die sich dem touristischen Blick Hollywoods darbietet. Das populäre, volkstümliche Paris, das Regisseure wie Jean Renoir, Jacques Duvivier oder Jean-Pierre Jeunet feiern, nimmt er nicht in den Blick. Wehmütig musste ich an das schöne Wort des Kritikers Willy Haas denken, der René Clairs frühe Tonfilme für »die diskreteste und nobelste Propaganda für Paris« hielt. Lesperts hyperbeschleunigte Liebeserklärung wirkt hingegen wie eine ratlose Verherrlichung. Der Puls der Stadt schlägt anders.
Als ich jetzt für ein paar Tage dort war, wollte ich mir als Gegengift »Nocturama« anschauen, Bruno Bonellos offenbar hellsichtigen Film über eine Terrorzelle. aber der war schon aus den Kinos verschwunden. Ob er mein übliches, bestimmt zu argloses Sicherheitsgefühl erschüttert hätte? Allerdings erlebte ich die Stadt ohnehin in einem beschaulichen Ausnahmezustand. Während in Dresden Nizza-Sperren errichtet wurden, schien mir die Polizeipräsenz hier nicht höher als sonst zu sein. Selbst bei der »Nuit blanche«, der weißen Nacht, in der am Samstag diverse Kulturinstitutionen ihre Türen weit öffneten, blieb sie vergleichsweise dezent. Ich will nicht behaupten, dass meine Eindrücke repräsentativ sind; sie sind es nicht einmal für den touristischen Zugriff auf die Stadt. Die Wohnung meines Freundes Binh liegt in einem populären Viertel im Norden. In der benachbarten »Goutte d'or« (einem traditionellen Brennpunkt der Einwanderung aus dem Maghreb, vor dem Christian Clavier in »Monsieur Claude und seine Töchter« kleinlaut warnt) herrschte die gleiche Geschäftigkeit wie immer. Mir fiel nur auf, dass die Phalanx der Zigarettenschmuggler an der Metrostation Barbès-Rochechouart noch größer geworden ist. Auch in der Ausstellung über Hergé, den Erfinder von »Tim und Struppi«, im Grand Palais herrschte mächtiges Gedränge, es war allerdings auch eine ziemliche Dummheit, gleich am ersten Wochenende nach der Eröffnung dorthin zu gehen. Und wegen des prächtigen Wetters war der Parc de Bercy, wo ich gern zwischen zwei Besuchen in der Cinémathèque verweile, ebenfalls gut besucht. Die jungverliebten Paare, die sich dort in der Mittagssonne neckten und küssten, erinnerten mich dann allerdings doch sehr an Lesperts Filmchen.
Für Aufregung sorgte an diesem Wochenende einzig die Meldung, dass Kim Kardashian in ihrem Hotel überfallen und ausgeraubt wurde. Das Entsetzen über den Schicksalsschlag, der die hingebungsvolle Besucherin der Fashion Week ereilte, war in den sozialen Medien groß. Binh hingegen fand es nur seltsam, wie man nach Paris mit Juwelen im Wert von neun Millionen reisen könnte. Aber was versteht unsereins schon von den Pflichten eines Reality-TV-Stars? Immerhin amüsierte uns eine Karikatur, in der Miss Kardashian den Platz der stattlichen Bianca Castafiore auf dem Cover des »Tim-und-Struppi«-Albums »Die Juwelen der Sängerin« einnahm. Eine weit dezidiertere Meinung zu dem Zwischenfall äußerte Mathieu Kassovitz: Er sei stolz, twitterte er, ein Pariser zu sein. Ein paar Stunden später legte er nach und gratulierte den Einbrechern: »In Frankreich gibt es eben noch Leute, die einer richtigen Arbeit nachgehen!« Das sind starke Worte aus dem Munde eines Filmemachers, der seit Jahren leider nur noch durch törichte Provokationen aufgefallen ist. Aber auf den Hochmut der Pariser ist Verlass.
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