Kritik zu American Honey

© Universal Pictures

2016
Original-Titel: 
American Honey
Filmstart in Deutschland: 
13.10.2016
Sch: 
L: 
162 Min
FSK: 
12

Andrea Arnolds traumhaft mäanderndes Hollywood-Debüt ist ein Roadmovie über die Kinder  eines neuen Amerikas: Ein Gruppe Jugendlicher reist als »Abo-Drücker« ziellos durch die USA, zugleich unter ökonomischem Druck und auf der Suche nach der großen Freiheit

Bewertung: 5
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»Wir erkunden Amerika, irgendwie«, erklärt der leicht verwahrloste Junge mit dem Gesichtspiercing dem Mädchen aus dem Supermarkt mit entwaffnendem Grinsen. Star (Newcomerin Sasha Lane) muss nicht zweimal überlegen. Viel hält die Achtzehnjährige, die in der Eröffnungsszene von Andrea Arnolds US-Debüt »American Honey« mit ihren Geschwistern Essen aus Müllcontainern fischt, ohnehin nicht in diesem Kaff im Mittleren Westen, wo sich Schlüsselmomente eines Teenagerlebens mit grausamer Zwangsläufigkeit auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums ereignen. Hier begegnet Star das erste Mal dem Hustler Jake (Shia LaBeouf), der mit einer Gruppe von Außenseitern, Ausreißern und Partykids in einem Bus durch die USA fährt. Ein Balztanz zu Rihannas Discostampfer »We Found Love in a Hopeless Place« – der Titel ist in diesem Augenblick wörtlich zu verstehen – besiegelt die unausgesprochene Leidenschaft zwischen Star und Jake in einem besinnungslos-euphorischem Gefühlsrausch, der Arnolds Roadmovie über fast drei Stunden trägt.

Die Straße ist im Kino der Ort, an dem sich Amerika ein Bild von sich selbst macht. Bereits in der Erschließung des Westens verschmolzen Fortschrittsglaube, Glücksversprechen und Freiheitsstreben zu einer nationalen Idee, Mobilität zählt zu den Gründermythen der USA. Im Genre der Reiseerzählung besitzt der Panoramablick durch die Windschutzscheibe eine fast mythische Qualität, in ihm wird implizit immer auch das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Zivilisation und Natur, dem Moment und der Ewigkeit neu verhandelt. Vielleicht ist die Straße sogar der letzte Ort, an dem Amerika noch Selbstbestätigung findet. Auch das Kino erlag immer wieder der Gefahr dieser Mythifizierung, was sich insofern als problematisch erwies, als Mythen dazu tendieren, die soziale Wirklichkeit auszublenden. Es ist also kein Zufall, dass jetzt eine englische Filmemacherin aus einer Außenseiterperspektive einen ausgesprochen nüchternen Blick auf dieses Amerika wirft, das politisch und gesellschaftlich immer stärker auseinanderdriftet.

Weil dieses Land momentan in einer so fundamentalen Krise steckt, bietet auch das Genre des Roadmovie kaum noch inneren Halt. In »American Honey« führt die Reise in einer monotonen Abfolge von Motelaufenthalten und Stippvisiten in nahezu identisch aussehende Vorortsiedlungen durch den verwaisten Mittleren Westen, dem sogenannten heartland der USA. Das für Arnolds Filme inzwischen so charakteristische, fast quadratische Academy-Bildformat bedeutet auch formal eine Disruption in der Genrelogik. Die Regisseurin hatte sich bereits in »Fish Tank« und »Wuthering Heights« an einem lyrischen Naturalismus versucht, der Kitchen-Sink-Ästhetik mit märchenhaften Motiven verband. Man sieht »American Honey« an, wie souverän Arnold sich diese Bildsprache inzwischen zu eigen gemacht hat. Ihr Film besitzt trotz seines mäandernden Erzählflusses eine wunderbare unverstellte Direktheit. Das liegt vor allem an dem großenteils unerfahrenen Darsteller-Ensemble, das Arnolds sozialer Utopie emotionalen Halt verleiht. »American Honey« erinnert durch diese Nähe zu seinen Figuren – und nicht zuletzt wegen seiner sexuellen Ausschweifungen – an die besten Filme von Larry Clark und Gus Van Sant.

Die Gruppe Jugendlicher, der Star sich auf der Flucht vor ihrem perspektivlosen Leben anschließt (die jüngeren Geschwister lässt sie schweren Herzens in der Obhut der Mutter zurück), hat keinen Namen und kein Ziel. Sie fungiert für die Mitreisenden als eine Ersatzfamilie mit einer klaren Hie­rarchie. Ganz oben in der Rangordnung steht das White-Trash-Girl Krystal (Riley Keough), die mit sektenähnlicher Autorität ihre »Family« anführt. Krystal lässt sich von Jake im Cabrio herumchauffieren und untermauert ihre Machtposition durch ein symbolisches Bestrafungssystem. Dennoch scheint das Leben auf der Straße unbeschwert, dazu wummert aus den Boxen ununterbrochen ein stimulierend zähflüssiger Südstaaten-Hip-Hop. Doch die Diskrepanz zwischen dem Heil dieser heterogenen Solidargemeinschaft und der Außenwelt ist unübersehbar.

Dass die Jungen und Mädchen, die sich Krystal anschließen, aus der Gesellschaft herausgefallen sind, zeigt deutlich das anachronistische Geschäftsmodell, mit dem sich die Reisegruppe finanziert. An ihren Einsatzorten ziehen die Jugendlichen in Zweiergruppen von Haustür zu Haustür, um den Leuten Zeitungsabos anzudrehen. Jake ist der erfolgreichste »Drücker« der Bande, die sich nebenbei mit kleinkriminellen Aktivitäten ein Zubrot verdient. Seine Gabe, Menschen mit Worten um den Finger zu wickeln, schlägt auch Star, die ihm als »Lehrling« zur Seite gestellt wird, in den Bann. Star ist anders als die anderen Mädchen und Jungen der Gruppe, sie lebt nach ihren eigenen Prinzipien. Ihr Eigensinn führt zwangsläufig zur Konfrontation mit Krystal, die ihre Herr-der-Fliegen-Ordnung bedroht sieht. Während sich die Jugendlichen nach außen hin zunehmend abschotten, bahnen sich innerhalb der Gruppe kleine Konflikte an. Star und Jake scheinen der Kontrolle Krystals zu entgleiten.

Erstaunlich an »American Honey« ist, mit welcher Sicherheit Arnold die naive, in unwirkliche Lichtschlieren gehüllte Erfahrungswelt der Jugendlichen mit der harschen Realität kurzschließt. Die Verkaufstouren führen in die unterschiedlichsten Städte und Nachbarschaften, wodurch der Roadtrip sukzessive ein gesellschaftliches Panorama eröffnet, in dem die Kids die passenden sozialen Rollen annehmen. Ein Verkaufsgespräch mit einer streng evangelikalen Mutter etwa nimmt eine komische Wendung, die auch nie ganz den Exotismus verhehlen kann, den Arnold bei aller Faszination für das Leben in der geografischen und mentalen Mitte Amerikas verspürt. Ihre Sympathien liegen eindeutig auf der Seite der Jugendlichen, für die Musik, Sex und Drogen die letzten Bastionen der Freiheit bedeuten, die ihnen niemand nehmen kann. Star und Jake spielen in diesem fragilen sozialen Gefüge eine unschuldige Version von Bonnie und Clyde: unberechenbar und leidenschaftlich, impulsiv und gefährlich und dabei ohne jedes Verantwortungsgefühl. Die Kinder eines neuen Amerikas.

... Interview mit Regisseurin Andrea Arnold

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