Einfach mal entspannen – Das Independent-Kino in Großbritannien
»High-Rise« mit Sienna Miller. Foto: DCM
Serie zur Lage des Independent-Kinos. Teil 2: Großbritannien
Ist »High-Rise« ein Indie? Das ist den Briten ziemlich egal. Wichtig ist, dass ein Film etwas über die Befindlichkeit des Landes erzählt. Und das funktioniert gerade sehr gut: Auf der Insel ist Kreativstimmung
Dem britischen Independent-Film geht es gut. Obwohl Hollywoodfilme immer noch den Löwenanteil der Einnahmen an den Kinokassen einspielen, können sich die Zahlen für die unabhängig von großen US-Filmstudios gedrehten Produktionen sehen lassen. Sie lagen im letzten Jahr an dritthöchster Stelle seit Verzeichnung der Einnahmen für den Independent-Film im Land. Der wichtigste Geldgeber für das unabhängige britische Kino ist das BFI, das British Film Institute, das viele Instrumente zur Film- und Nachwuchsförderung im eigenen Land bereitstellt, etwa die BFI Film Academy. Eine bedeutende Plattform ist das London Film Festival, das vom BFI organisiert wird.
Das British Film Institute, auf dessen Website auch die Statistiken des britischen Films nachzulesen sind, berichtete, dass die großen Hollywoodstudios weiterhin Geld in die Filmproduktion des Vereinigten Königreichs investierten, vor allem angelockt durch großzügige Steuerreduktionen.
Diese Entwicklung kommt auch dem Independent-Film zugute. So jedenfalls weiß es das kanadische Medienunternehmen Lionsgate, die kommerziell erfolgreichste Film- und Fernsehvertriebsgesellschaft außerhalb der Vereinigten Staaten. Die Firma kündigte im vergangenen Mai an, dass sie in den kommenden Jahren mindestens 25 britische Independent-Filme finanzieren oder mitfinanzieren wolle. Der Lionsgate-CEO für UK und Europa, Zygi Kamasa, erklärte das Vereinigte Königreich zu einem der derzeit weltweit kreativsten Orte für das Filmemachen: »Und wir wollen dazu beitragen, britische Independent-Filme weltweit an die vorderste Front des Kinos zu bringen.«
Die außerordentliche Gesundheit des britischen Films führte auch Kamasa nicht zuletzt auf die Steuernachlässe zurück. Die Tatsache, dass viele große Filme im Vereinigten Königreich produziert werden, wirke sich insgesamt positiv auf die Industrie aus: »Es schult die Crews für die Arbeit an großen Filmen.« Will sagen: Großbritannien wird als Spielplatz und Experimentierfeld kreativer und neuer Talente betrachtet, die für größere Projekte ins Auge gefasst werden. Auch sei die Gesundheit des Mainstream- und des Independent-Kinos eng verlinkt: »Je erfolgreicher die Industrie insgesamt ist, mit US-Studios im Land, desto mehr kommt es zu einem Zirkel von Reinvestitionen, was fantastisch für die Industrie ist und großartig für uns, weil wir auf diese Weise britische Independent-Filme machen können.«
Tatsächlich verwischen sich die Grenzen zwischen britischem Mainstream-Kino und unabhängigen Filmproduktionen. Das zeigt auch ein Blick auf die Gewinnerliste der wichtigsten Auszeichnung für den unabhängigen Film im Vereinigten Königreich, den British Independent Film Award. Sie enthält fast ausschließlich bekannte Namen und anderwärts hochkarätig nominierte und prämierte Filme und Mitwirkende. Unter den Regisseuren sind Danny Boyle, Ken Loach, Mike Leigh, Andrea Arnold, Stephen Frears und Stephen Daldry. Schon erstaunlich: denn hätte man etablierte Filmemacher wie Danny Boyle, der für die beste Regie für »Slumdog Millionaire« (2008) ausgezeichnet wurde, und Stephen Daldry, dem dieselbe Ehre im Jahr 2000 für »Billy Elliot« zuteilgeworden war, noch der Independent-Szene zugerechnet? Auch Produktionen wie »The King's Speech« (2010) wären ihrer vergleichsweise konventionellen Ästhetik und der aufwendigen Gestaltung wegen nicht auf den ersten Blick im Independent-Kino anzusiedeln. Die Bandbreite der unabhängigen Filmproduktion mit ihrer Nähe zum großen Publikumsfilm am einen Ende des Spektrums und eigenwilligen, mutigeren oder experimentierfreudigen Arbeiten auf der anderen Seite erscheint im Licht der Indie-Preis-Nominierungen enorm. Während Arbeiten wie »The Queen« (2006) oder »The Last King of Scotland« (2006) mit der Anmutung von Mainstream-Filmen im mittleren Segment anzusiedeln wären, tragen die mit geringeren finanziellen und riskanteren künstlerischen Mitteln hergestellten »Moon« (2009) und »Locke« (2013) deutlichere Merkmale des klassischen Indie-Films. 2015 räumte Alex Garlands formal ehrgeiziger Science-Fiction-Film »Ex Machina« die Awards für den besten Film, für Drehbuch, Regie und Technik ab, im Jahr zuvor gewann Matthew Warchus' stilistisch eher konventionelle Schwulenkomödie »Pride«.
Die verwirrenden Zuschreibungen mögen der großzügigen Auslegung des Independent-Begriffs zu verdanken sein. Nominiert werden für den British Independent Film Award Filme, die bereits öffentlich gezeigt wurden, deren Gelder überwiegend – zu mindestens 51 Prozent – aus britischen Quellen stammen oder überwiegend von einer britischen Firma produziert oder koproduziert werden. Ein Teil des Budgets darf von großen Studios kommen, wobei in diesem Fall die Grenze bei 10 Millionen Pfund liegt. Das sind hohe Beträge für Independent-Filme, und daraus mag sich ein Teil des Crossover-Effekts zum Mainstream-Film erklären.
Zum Vergleich: Regiehoffnung Ben Wheatley, Jahrgang 1972, drehte vor drei Jahren »A Field in England« (2013) in 12 Tagen mit einem Budget von 300 000 Pfund. Heute hat er sich auf internationales Niveau hinaufgeschraubt – mit der J. G.-Ballard-Verfilmung »High-Rise« (2015), starbesetzt mit Tom Hiddleston und Sienna Miller. Wheatleys Regiekarriere mit abendfüllenden Filmen hatte erst 2009 mit dem preisgünstig hergestellten Werk »Down Terrace« begonnen, das er in acht Tagen drehte. Einem größeren Publikum wurde er durch die Horrorkomödie »Sightseers« (2012) bekannt. Andrea Arnold, eine weitere starke Stimme des gegenwärtigen britischen Independent-Films, drehte ihre Version von Emily Brontës »Wuthering Heights« 2011 mit einem Budget von 5 Millionen Pfund. Ihr weithin gelobtes Drama »Fish Tank« (2009) kostete 1,8 Millionen Pfund. Arnolds gerade in Cannes gezeigter jüngster Film »American Honey« (2016) ist eine amerikanisch-englische Koproduktion, verlässt thematisch englischen Boden – und auch den der Independent-Szene ihres Landes.
Auch die Reihe der bei den British Independent Film Awards nominierten Schauspieler ist prominent; sie reicht von Ian McKellen, Daniel Craig, Judi Dench, Rachel Weisz, Carey Mulligan, Tom Hardy, Chiwetel Eijofor, Michael Fassbender und Colin Firth bis hin zu Ralph Fiennes, Brendan Gleeson und James McAvoy. In der Arbeitspraxis der meisten von ihnen gehen Mainstream-Kino und kleinere, unabhängige Produktionen Hand in Hand; der Wechsel zwischen Blockbustern, großen Studioproduktionen und Arthouse-Filmen ist inzwischen Usus geworden. Wie etwa bei Michael Fassbender, der in der »X-Men«-Serie zu sehen ist, aber immer wieder zu kleinen Produktionen zurückstrebt. Seinen Durchbruch verdankte er Steve McQueens Indie-Film »Hunger«, einer Arbeit, die Fassbender 2008 den »Independent Film Award« eintrug.
Pippa Cross, eine der Begründerinnen des Awards und selbst Produzentin, sagte 2011 in einem Interview, sie wünsche sich, dass britische Filme grundsätzlich stärker von britischen Investoren gefördert würden: »Es gibt im Moment viele Filme, die britisch aussehen und klingen. Sie wurden hier in britischen Studios gedreht, mit britischen Crews und Schauspielern – und alle Profite gehen direkt nach Amerika, weil sie mit amerikanischem Geld gemacht wurden.«
Der englische Film knüpfte traditionell – insbesondere von den 60er Jahren an – so enge Bande mit dem amerikanischen Kinogeschäft, dass die Grenzen oft schwer zu ziehen waren. Nicht zuletzt der gemeinsamen Sprache ist der besondere Einfluss der amerikanischen Kinoindustrie auf die des Vereinigten Königreichs zuzuschreiben. Dank seiner in vieler Hinsicht engen Verflechtung mit dem amerikanischen Film ringt – und rang – der britische Film oft um die eigene Identität, zumindest was die nationale Zuschreibung unter Berücksichtigung der Produktion angeht.
Thematisch aber sind britische Filme leicht identifizierbar. Generell ist das Selbstverständnis des Königreichs – und Irlands – der Dauerbrenner und das Lieblingsthema. Das gilt für die drei beliebtesten Genres des britischen Mainstream- und Independent-Films zugleich – Sozialdramen, Komödien und Literaturverfilmungen von E.M. Forster (»A Room With A View«, »Howards End«, »A Passage to India«) bis hin zu Irvine Welsh (»Trainspotting«). Im Prinzip existiert eine Zweiteilung. Da ist einerseits eine Strömung, die old school ist und mit Elementen der etablierten Traditionen spielt – oder diese zwar zeigt, mitunter aber zugleich, meist in gemäßigter oder in subversiver Weise, kritisiert, wie etwa David Leans Werke. Andererseits entstanden von den Nachkriegsjahren an oppositionelle Filme, die allem, was posh war, so entschieden den Rücken kehrten, dass sie die Welten des gehobenen Bürgertums und des Adels kaum je abbildeten. Stattdessen zeigten sie den mal harten, mal unappetitlichen Alltag der »einfachen Leute« mit einer Genauigkeit, die ihre Wurzeln in der britischen Dokumentarfilmbewegung haben mag, die in den dreißiger Jahren begann.
In den fünfziger Jahren setzte sich das Free Cinema mit den Exponenten Lindsay Anderson, Gavin Lambert und Karel Reisz für ein sozial engagiertes Kino, eigene unabhängige Produktionen und einen ungeschönten Blick aufs Leben ein: Die Pionierarbeit am unabhängigen Kino begann in Großbritannien schon früh, lange vor New Hollywood und dem Jungen Deutschen Film. Lindsay Anderson schrieb zusammen mit Lorenza Mazzetti in einem Manifest des Free Cinema: »No film can be too personal. The image speaks. Sound amplifies and comments. Size is irrelevant. Perfection is not an aim. An attitude means a style. A style means an attitude.« Die Free-Cinema-Bewegung richtete sich gegen das konservative Mainstream-Kino der Zeit und zeigte die Klassen- und Lebensverhältnisse der Zeit an möglichst originalen Schauplätzen. Sie nahmen ihre Kameras mit auf die Straße; sie vermieden chronologisches Erzählen.
Ziel war es, die billig hergestellten Filme unabhängig zu produzieren und zu finanzieren; das geschah mit Hilfe des British Film Institute und Einzelsponsoren wie Ford. Bevorzugt wurde ein dokumentarischer Blick, und er blieb ein Grundzug, der weit in die Zukunft des britischen Independent-Films reichte und wichtige britische Regisseure prägte; Ken Loachs Debüt etwa, das Fernsehspiel »Cathy Come Home« (1966), verdankt mit seinen authentischen Schauplätzen und seinem innovativen Gebrauch von Dokumentartechniken dem Free Cinema viel.
Mitgetragen wurde die nüchterne, aufs Sozial-Realistische gerichtete Wahrnehmung von Filmemachern wie John Schlesinger, der als Dokumentarfilmer begann und später mit Spielfilmen wie »Billy Liar« (1963), »Darling« (1965) und »Midnight Cowboy« (1969) berühmt wurde. Schlesinger zählte zu den wichtigsten Filmemachern der nächsten Phase des britischen Independent-Kinos, zusammen mit Tony Richardson, Karel Reisz und Lindsay Anderson: Die British New Wave, so benannt mit der wörtlichen Übersetzung des Begriffs der Nouvelle Vague aus dem Französischen, existierte von 1959 bis 1963.
Trotz ihrer Kurzlebigkeit reichte der Einfluss der British New Wave, die im Zeichen der politischen und gesellschaftlichen Aufbruch-Ära des »Swinging London« stand, weit. Zu den wichtigen Filmen gehörten »Room at the Top« (Jack Clayton, 1959), »Look Back in Anger« (Tony Richardson, 1959), »A Taste of Honey« (Richardson, 1961), »Saturday Night and Sunday Morning« (Karel Reisz, 1960), und »This Sporting Life« (Lindsay Anderson, 1963). Zum ersten Mal wurden bisher marginalisierte Themen und Figuren ins Zentrum gestellt. Menschen der Arbeiterklasse erschienen, anders als zuvor, als ernst genommene, facettenreiche Charaktere auf der Leinwand. Auch stilistisch zeigten die Filme eine neue Experimentierfreude. Nicht zuletzt popularisierte die British New Wave – die früh endete, weil sie sich schlecht finanzieren ließ – die Namen von Schauspielern wie Julie Christie, Tom Courtenay, Rita Tushingham oder Albert Finney. In den sechziger Jahren erlebte die englische Filmwirtschaft zwar eine Blüte, doch liess sich dank der massiven Investitionen aus den USA kaum noch von einem genuin englischen – oder englisch finanzierten – Kino sprechen.
In den siebziger Jahren formierte sich eine neue Bewegung des Independent-Films aus Gruppen wie London Film-Makers' Co-op, Cinema Action, Amber, Liberation Films und Sheffield Film Co-op. Die neue Avantgarde beeinflusste den Mainstream und ermöglichte schließlich Crossover-Werke von Filmemachern wie Peter Greenaway und Sally Potter. Ob sich der Grundzug des sich an der sozialen Wirklichkeit reibenden Dramas, das mit dem Free Cinema begann, auch in den siebziger Jahren fortsetzte, ist unter britischen Filmhistorikern umstritten. Sicher ist, dass sich das Thema Jugend Platz verschaffte. So etwa in »That'll be the Day« (Claude Whatham, 1973), »The Likely Lads« (Michael Tuchner, 1976) und »Quadrophenia« (Franc Roddam, 1979).
In den achtziger Jahren bahnte sich nach einem Tief trotz der Kürzungen von Kultursubventionen durch die Thatcher-Regierung ein neuer Aufschwung des britischen Kinos an. Ermöglicht wurde dies in der Independent-Szene maßgeblich durch die Gründung des Fernsehsenders Channel 4 im Jahr 1982, der sich im Zeichen der kulturellen Vielfalt die vollständige oder teilweise Förderung von Low-Budget- und unabhängigen Spielfilmen, die sowohl im Fernsehen als auch im Kino gezeigt wurden, zur Aufgabe machte. Filme wie »Angel« (Neil Jordan, 1982), »The Draughtsman's Contract« (Peter Greenaway, 1982), »Letter to Brezhnev« (Chris Bernard, 1985) »My Beautiful Laundrette« (Stephen Frears, 1985), »Distant Voices«, »Still Lives« (Terence Davies, 1988) und »High Hopes« (Mike Leigh, 1988) wurden mit Hilfe von Channel 4 produziert.
Die soziale Wirklichkeit im Vereinigten Königreich blieb weiterhin ein Fokuspunkt, doch Einflüsse des europäischen Kunstfilms und größere visuelle Experimentierfreude wurden spürbar. Aber selbst Peter Greenaways optisch barocker Film »The Cook, The Thief, His Wife & Her Lover« (1989) begnügt sich nicht mit seiner Freude am stilistischen Schnörkel. Die schwarze Komödie, die Konsum- und Kapitalismuskritik mit einem kannibalischen Mahl auf die Spitze treibt, wurde als Allegorie und Abgesang auf die Thatcher-Ära gelesen, wobei Greenaway Kulturkritik mit ätzendem politischem Kommentar verband. Auch der große Stilist Derek Jarman betrieb nie L'art pour l'art: Ihm ging es in seiner radikalen Formsprache immer auch um das politische Statement, wie etwa in »The Last of England« (1987), in dem er das, was er als Niedergang der englischen Kultur empfand, mit Momentaufnahmen der eigenen Biografie verband.
Die Filme von Michael Winterbottom, der für »Wonderland« (1999) mit dem Independent Award ausgezeichnet wurde, befassen sich ebenfalls häufig aus linker Perspektive mit dem Zustand seines Landes. Oft improvisiert er – oder lässt seine Schauspieler improvisieren – und verbindet Fiktion und Dokumentation. In »Welcome to Sarajevo« (1997) versetzt er einen britischen Reporter in den Bosnienkrieg, »In This World« (2003) führt zwei junge Afghanen auf die Flucht nach London, »The Road to Guantanamo« (2006) erzählt die Geschichte dreier Briten, die unter Terrorismusverdacht in Afghanistan aufgegriffen und in den US-amerikanischen Gefangenenlagern auf Guantanamo Bay ohne Rechtsbeistand festgehalten und gefoltert wurden.
Während Winterbottom den Bezug zu Großbritannien oft über internationale Verflechtungen und Bezüge herstellt, entdeckt Shane Meadows die Welt im Regionalen. Der Regisseur, der sich vor allem mit der Coming-of-Age-Geschichte »This is England« (2006) einen Namen machte, stellt fest, dass sich durch die veränderten Produktionsbedingungen und digitaleTechnik auch außerhalb der Metropole London gut Filme drehen lassen.
Bevorzugt siedelt er seine Schauplätze in Welten an, die er kennt und die er für seine meist autobiografisch gefärbten Geschichten nutzbar macht, in Nottingham und in den Midlands. In »This is England« konfrontiert er einen Elfjährigen mit einer Gruppe von Skinheads. Was folgt, sind der Verlust der Unschuld und ein Filmschluss, der an den von »Quadrophenia« viele Jahre zuvor erinnert: Statt eines Motorrollers wirft der junge Shaun am Ende eine England-Flagge ins Meer. Auch hier wird die Einzelbiographie zurückgebunden an die Gesellschaft des eigenen Landes. Und das ist very British.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns