Kritik zu No Turning Back
Ein wundersamer Trip durch die Nacht: Tom Hardy ist sich in Steven Knights reduziertem Drama selbst genug. Und beweist, dass großes Kino manchmal nicht viel mehr benötigt als ein Auto und eine Freisprechanlage
Ein Trucker eingezwängt in einen Sarg; ein Segler manövrierunfähig auf hoher See; eine Astronautin allein in den Weiten des Alls: Das Kino liebt solch minimalistische Konzepte, solch radikale Reduktionen. Trotz aller Beschränkung stoßen sie Türen auf, die in »normalen« Filmen geschlossen bleiben, und zelebrieren erzählerische Mittel, die sonst bewusst vermieden werden. Die Monotonie etwa, die Dunkelheit oder die Stille. Dabei entdecken sie, wenn alles gutgeht, das Filmische im Unfilmischen, das Spektakel im Gleichförmigen, das Drama in der Langeweile. Und erschließen dem Medium reizvolle neue (Neben-)Wege.
Nun also: ein Bauleiter anderthalb Stunden in seinem Auto. Beinah in Echtzeit wird seine nächtliche Fahrt geschildert, 118 Meilen von Birmingham nach London. Unterwegs begegnet ihm kein einziger Mensch, er wird in keine Verfolgungsjagd verwickelt, gerät nicht einmal in einen Stau. Er muss auch kein existenzielles Rückzugsgefecht führen wie Ryan Reynolds in Buried, Robert Redford in All Is Lost oder Sandra Bullock in Gravity. Dennoch ist sein Trip alles andere als alltäglich. Er entwickelt sich zum packenden Porträt eines Mannes, der die einzig richtige und zugleich vollkommen falsche Entscheidung getroffen hat. Ein Fundament soll er errichten, aber stattdessen bringt er ein ganzes Leben zum Einsturz.
Die ersten Bilder zeigen den Schlund einer Großbaustelle am Ende des Tages. Unser Held, Ivan Locke (Tom Hardy), steigt in jenen silbernen BMW, der für die buchstäblich abendfüllende Reise sein Zuhause sein wird, oder eher: sein Kommunikationszentrum. Per Telefon ist er mit all den Menschen verbunden, die er fluchtartig hinter sich lässt – und mit der Frau, der er entgegenfährt. Rapide folgt ein Gespräch auf das andere, es ist eine einzige Konferenzschaltung, und Ivans Autositz ist abwechselnd Beichtstuhl, Kommandoposten und Plaudersessel. Nur peu à peu gewährt uns das raffinierte Drehbuch von Steven Knight – hier Autor und Regisseur in Personalunion – Einblicke in Ivans Hintergründe und Motive. Am offensichtlichsten ist dabei noch die professionelle Ebene: Obwohl er sich während der letzten neun Jahre als kompetenter und verantwortungsvoller Vorgesetzter erwiesen hat, lässt Ivan seine Kollegen am Vorabend einer extrem bedeutsamen Betonlieferung im Stich. Er weiß, dass ihn das den Job kosten wird, trotzdem hat er sich in den Kopf gesetzt, die komplexe Operation aus der Ferne so zu dirigieren, dass sie gelingen kann.
Einen Großteil seiner Intensität und Spannung bezieht der Film aus der Frage, warum ein so gewöhnlicher Kerl wie Ivan einen so außergewöhnlichen Schritt unternimmt. Die Antwort liegt, natürlich, auf der persönlichen Ebene. Auch dort bricht Ivan unvermittelt aus einer geordneten Existenz aus; fassungslos reagiert Ivans Frau auf seine Bekenntnisse, traurig und irritiert nehmen seine Söhne zur Kenntnis, dass er nicht zum Fußballgucken bei ihnen sein wird.
Dass No Turning Back so grandios funktioniert, liegt selbstverständlich an Tom Hardy, der seiner Filmografie eine weitere faszinierende Facette hinzufügt. Frei von jedem Manierismus, ganz zurückgenommen und sachlich absolviert er eine darstellerische Mammutleistung. Die Emotionen dieses eher kontrollierten Charakters lässt er allenfalls in kurzen Momenten aufblitzen, vor allem durch das intensive Spiel seiner Augen. Das ist umso beachtlicher, wenn man bedenkt, wie physisch und expressiv seine Methode bislang war.
Aber auch in stilistischer Hinsicht kann sich Steven Knights Arbeit mehr als sehen lassen. Aus jedem erdenklichen Winkel erfasst seine Kamera das Innere des vierrädrigen Mikrokosmos, so das dass Geschehen in jeder Hinsicht abwechslungsreich bleibt. Und, wichtiger noch, dank der in vielen weichen Überblendungen geschickt montierten flirrenden und glitzernden Straßenbilder bekommt die Exkursion einen beinah hypnotischen Reiz. Bei allem Minimalismus entsteht so ein Gefühl von wunderbarer flüssiger Eleganz.
Interview mit Regisseur Steven Knight
Der britische Regisseur Steven Knight (geb. 1959) war bisher vornehmlich als Drehbuchautor für renommierte Regisseure wie Steven Frears (Kleine schmutzige Tricks), Michael Apted (Amazing Graze) und David Cronenberg (Tödliches Versprechen) tätig. Im Dialog mit Martin Schwickert spricht Knight über seine Regiearbeiten, die ehrliche Arbeiterklasse Englands und das tägliche Identitäts-Multitasking.
Ein Mann, ein Auto, eine Freisprechanlage – wie erschafft man aus einem solch reduzierten Setting einen derart spannenden Film?
Indem man das Publikum zu einem sehr frühen Zeitpunkt in die Probleme der Hauptfigur einbindet. Das Ziel des Filmes ist es, dass die Zuschauer vergessen, dass sie die anderen Charaktere, die nur als Anrufer präsent sind, gar nicht zu Gesicht bekommen. Diese Figuren sollen im Kopf des Zuschauers Gestalt annehmen.
Liegt in der bewussten Beschränkung die größere kreative Herausforderung?
Auf jeden Fall, aber man muss darauf achten, dass die Story die Form bestimmt und nicht umgekehrt. Wenn man mit den Zuschauern am Anfang eine Abmachung trifft und ihnen klar sagt "Das ist alles, was ihr zu sehen bekommt" können sie sich entspannen und dem Geschehen mit einer größeren Aufmerksamkeit folgen. Umgekehrt drängt die formale Beschränkung den Regisseur dazu, aus dem Wenigen, was er hat, das Beste herauszuholen. Man muss beim Drehbuchschreiben genau darauf achten, dass man das Publikum nie loslässt. Wir hatten anfangs eine Fassung des Filmes, in der es mehr Außenaufnahmen auf das Auto gab. Aber bei Testvorführungen haben wir festgestellt, dass die Zuschauer das gar nicht wollten. Sie wollten zurück ins Auto.
Als Drehbuchautor waren Sie bisher im Kostümfilm (Amazing Grace), im Mafia-Milieu (Tödliche Versprechen) und im Action-Kino (Redemption- Stunde der Vergeltung) unterwegs – warum haben Sie in Ihrer eigenen Regiearbeit einen Bauarbeiter und Familienvater ins Zentrum gestellt?
Es war eine sehr bewusste Entscheidung, die Kamera auf einen ganz gewöhnlichen Mann zu richten, dessen Geschichte es normalerweise nicht in die Lokalnachrichten geschweige denn in einen Kinofilm schaffen würde. Ivan Locke ist Betonbauer, ein sehr geradliniger, vernünftiger und verlässlicher Mann. Das was ihm passiert, könnte jedem von uns zustoßen. Es ist das gewöhnliche Drama des normalen Lebens.
Warum Betonbauer? Wofür steht dieser Beruf?
Ich wollte ihm eine möglichst unglamouröse Profession geben. Ich habe selbst als junger Mann auf dem Bau gearbeitet und wenn der Beton angeliefert wird, ist das immer ein großes Drama auf einer Baustelle. Sehr viel Geld und die Jobs einiger Menschen stehen hier auf dem Spiel. Wenn sich die Betonmischer vor der Baustelle aufreihen, muss alles wie am Schnürchen funktionieren. Man hat keine andere Wahl. Außerdem hat mir die Idee gefallen, dass dieser Baustoff Ivans Charakter spiegelt. Er glaubt daran, dass man Dinge in eine solide Form bringen kann. Ich habe ihn nach dem Philosophen John Locke benannt - der Rationalist, der mit seinen Lehren Ordnung ins Chaos bringen will und das eigene individuelle Sein dieser Aufgabe unterordnet. Das ist genau das, was Ivan auf seiner Arbeit tut.
Ivan Locke hat ein sehr ausgeprägtes Verantwortungsgefühl – eine Tugend, die, wenn man sich etwa die Bankenkrise anschaut, heute nicht allzu weit verbreitet scheint…
In der Vorbereitung auf den Film habe ich ein paar Wochen mit einem Mann verbracht, der drei Jahre an einem der größten Gebäude Londons mitgebaut und dort genau Ivans Job gemacht hat. Solche Leute machen diese Arbeit nicht nur wegen des eher spärlichen Lohns. So ein Gebäude zu bauen ist für sie eine sehr persönliche Angelegenheit. Sie sprechen von „ihrem“ Gebäude und haben eine absolute Loyalität zum eignen Handwerk. Dafür bekommen sie keinen Bonus, das ist einfach die Art, wie sie ihre Arbeit verrichten. Ich denke es ist sehr viel schwerer, eine solche Loyalität zu seiner Arbeit aufzubauen, wenn man vor einem Computerbildschirm sitzt und virtuelle Entscheidungen trifft.
Woher kommt eigentlich das Faible des britischen Kinos für die Arbeiterklasse?
Klasse hat in England immer noch eine sehr starke Bedeutung. Wenn man, wie ich, in die Arbeiterklasse hineingeboren wurde, wächst man im kulturellen Sinne daraus nie vollständig heraus. Man schaut auf die Welt mit anderen Augen und sieht die Dinge so, wie sie sich einem in der Kindheit erklärt haben. Ivan wurde in eine Welt hineingeboren, in der sich sein Vater nicht um seine familiären Pflichten kümmerte, und versucht sein ganzes Leben lang dieser Vergangenheit zu entkommen. In England bestimmt die Klasse nicht nur die Herkunft. Sie ist auch ein Auftrag.
Ivan Locke ist ein Mann, der fest daran glaubt, dass er jedes Problem auf vernünftige Weise lösen kann – ist das eine typisch männliche Herangehensweise?
Das ist vielleicht nicht typisch, aber sehr charakteristisch für die männliche Sicht auf die Welt. Ivan Lockes Art mit bestimmten Dingen und Ereignissen umzugehen, ist vom Primat der Aktion bestimmt. Es geht ihm immer darum, möglichst schnell zu einer praktischen Lösung zu kommen. Das funktioniert mit Beton, aber eben nicht immer in menschlichen Beziehungen. Obwohl Ivan ahnt, dass das in der Situation, in der er sich befindet, nicht aufgehen wird, bleibt er bei dieser Haltung. Der Film versucht das Problemlösungsverhalten von Männern kritisch zu reflektieren.
Gleichzeitig geht es auch um die Grenzen menschlichen Multi-Taskings…
Wir haben alle unsere Smartphones. Wenn es klingelt, schauen wir zuerst, wer es ist, und verwandeln uns - noch bevor wir das Gespräch annehmen - in die Person, die sich auf die potenziellen Bedürfnisse des Anrufers einstellt. Mit jedem Anruf wird man ein anderer Mensch. Jeden Tag absolvieren wir eine Meisterklasse der Verwandlungskunst. Wir werden zum Vater, zum Bruder, zum Freund, zum Arbeitnehmer. Wir wechseln unsere Identität innerhalb weniger Sekunden je nach dem, wie es auf dem Display verlangt wird.
Das Interview führte Martin Schwickert
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