Kritik zu Slumdog Millionär
Mit zahlreichen Kritiker- und Branchenpreisen bedacht, für zehn Oscars nominiert – Danny Boyle hat mit seinem neuen Film einen Überraschungshit gelandet, den so niemand mehr von ihm erwartet hat
Seit »Lola rennt« hat man keinen Film mehr gesehen, in dem so viel gerannt wird. Jamal Malik (Dev Patel), noch keine 20 Jahre alt, »Chai-Wallah«, Teeholer in einem Callcenter in Mumbai, hat sein bisheriges Leben hauptsächlich rennend verbracht – auf der Flucht vor der Polizei, die ihn und seinen Bruder Salim beim Mundraub erwischte, vor dem Hindu-Fanatiker-Mob, der seine muslimische Mutter erschlug, vor der Verbrecherorganisation, die aus ihnen bettelnde Krüppelkinder machen wollte.
Armut, Missbrauch, Mord – es ist wahrlich keine schöne Lebensgeschichte, die in »Slumdog Millionär« erzählt wird. Mit ihrem harten Kontrast von unschuldigen Kinderseelen und erwachsenen Finsterlingen erinnert sie an einen Dickens-Roman. Da das heutige Indien, das hier als Hintergrund dient, als Land im Umbruch der digitalen Revolution tatsächlich in manchem dem England der industriellen Revolution ähnelt, ist der Vergleich nicht fehl am Platz. Doch die Entscheidung von Danny Boyle und seinem Drehbuchautor Simon Beaufoy, den Lebenslauf des »Slumdogs« Jamal im permanenten »on the run« zu zeigen, erweist sich als echter Kunstgriff, der die bekannte Geschichte mit erwartbarem Ausgang vollkommen neu und ungewöhnlich erscheinen lässt – und deshalb einen wesentlichen Schlüssel für den Überraschungserfolg des Films darstellt.
Tatsächlich ist Bewegung alles in diesem Film und alles ist in ständiger Bewegung. Regie, Kamera und Schnitt verstärken diesen Eindruck noch, indem jede Einstellung hektisch durch eine andere abgelöst wird und fast jeder Lauf im Gegenstrom einer trägen Masse erfolgen muss, sei es in den engen Straßen des Slums von Bombay, zwischen den Touristenscharen am Taj Mahal oder den drängenden Menschenleibern der indischen Bahnhöfe. Es ist diese Reibung an der Masse, der Enge, der Überfülle – die außerdem bestens unser westliches Indien-Klischee bedient –, die eine so wuchtige Energie auf der Leinwand erzeugt, dass sich der Zuschauer kaum abwenden kann. Allein schon deshalb ist »Slumdog Millionär« ein Erlebnis, gehört er doch zu jenen raren Filmen, die von der ersten Szene an berühren – bevor man überhaupt richtig weiß, um was es geht.
Zwar wird schon mit den ersten Bildern klar, dass dem Zuschauer bis zum vermuteten Happy End einiges zugemutet wird. Trotzdem lässt man sich bereitwillig darauf ein – dafür sorgt die suggestive Ausgangssituation: Jamal Malik, der »Slumdog«, nämlich muss in der indischen Version von »Wer wird Millionär?« nur noch eine Frage beantworten – dann hat er die Million gewonnen. Zwar führt der Film erst in der letzten halben Stunde das Fernsehpublikum vor, das sich in riesigen Gruppen in ganz Indien vor den Bildschirmen versammelt. Auf den Kinozuschauer wirkt dieser typische Fernseh-Cliffhanger aber sofort: Man will es miterleben, wie das Wunder passiert und der Slumdog zum Millionär aufsteigt.
Diesen Cliffhanger-Trick wendet schon die Buchvorlage an, der erfolgreiche Debütroman des indischen Diplomaten Vikas Swarup. Interessanterweise haben Boyle und sein Drehbuchautor zwar die suggestive Erzählstruktur übernommen, den Kern der Geschichte aber wesentlich verändert. Erhalten ist das Hin und Her zwischen gleich drei Zeitebenen: Die Gegenwart, in der Jamal in einem Polizeikommissariat sitzt, weil man ihn des Betrugs überführen möchte, und er nun zu jeder einzelnen Frage erklärt, warum ein ungebildeter »Chai-Wallah« wie er weiß, dass auf der 100-Dollar-Note Benjamin Franklin abgebildet ist. Sein Erzählen führt zunächst in die unmittelbare Vergangenheit der Quizshow, in der ein schmieriger Moderator sich über ihn lustig macht, und dann als Rückblende in die einzelnen Abschnitte seiner Elendsbiografie.
Wo im Buch Jamal mit Salim einen in Slumsolidarität verbundenen Freund hat, macht der Film die beiden zu echten Brüdern mit klassischem Konkurrenzkonflikt. Zwischen ihnen steht die schöne Latika, die Kindheitsliebe, die Jamal durch seinen TV-Auftritt erneut finden und retten will. Und mit der Millionenfrage erst wird sich entscheiden, ob und wie sie zueinanderfinden . . . Und spätestens da haben sich alle möglichen Zweifel des Zuschauers in der Bewegung endgültig aufgerieben.
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