Krimi und Krise: goEast-Festival
»Sirenengesang« (2015)
Einen Schwerpunkt auf das Genre-Kino setzte das diesjährige Wiesbadener goEast-Festival – ohne dabei seinem traditionell politischen Anspruch untreu zu werden
Vor den vielfältigen Gegenwartskrisen in »Angststarre und Krisenkakophonie« verfallen? – »Dann schon lieber ab ins Kino: zu goEast!« Der Rat, den Festivalleiterin Gaby Babić im Programmheft gibt, ist nicht nur Koketterie. Das Wiesbadener Festival hatte sich bei seiner 16. Auflage sektionsübergreifend dem Genre-Kino, vor allem dem Thriller, verschrieben. Das Symposium befasste sich unter dem Thema »Die im Schatten« mit dem filmhistorisch wenig untersuchten osteuropäischen Kriminalfilm von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. Das Porträt widmete sich dem polnischen Regisseur Juliusz Machulski, bekannt für seine schwarzen Komödien.
Dennoch war goEast auch diesmal ein politisches Festival. Einen deutlichen Akzent setzte der tschechische Dokumentarfilm »Naher ferner Osten«, mit dem das Festival an den im Februar in Moskau wegen der angeblichen Planung terroristischer Anschläge zu 20 Jahren Haft verurteilten ukrainischen Filmemacher Oleg Sentsov erinnerte. Sentsov war 2012 mit seinem Debütfilm »Gamer« Gast bei goEast. Regisseur Filip Remunda reiht in seinem Film Beobachtungen während einer Reise durch die Ukraine aneinander, wo tribalistische und nationalistische Tendenzen in den Alltag der Menschen eingesickert sind und die Vernunft sich auf beiden Seiten verabschiedet zu haben scheint. Eine junge Journalistin muss sich in einer Gesprächsrunde in Kiew Beschimpfungen gefallen lassen, als sie fragt, warum so viele Menschen sinnlos ihr Leben lassen müssen. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern im Donbass erzählt dagegen von ihrem Mann, der glaubt, die Familie nur durch seinen Einsatz an der Front schützen zu können. Dezidiert politische und soziale Themen nahm sich auch diesmal die Festivalsektion »Beyond Belonging« vor. Unter dem Motto »Oppose Othering!« standen Filme im Fokus, die sich mit der Stigmatisierung und Diskriminierung von Minderheiten auseinandersetzen, etwa »Mein Hund Killer« der slowakischen Regisseurin Mira Fornay.
Thematisch wie ästhetisch breit gefächert präsentierte sich der Spielfilmwettbewerb. Stilistisch eigenwillig: »Die Rote Spinne« (Regie- und FIPRESCI-Preis), die Spielfilmpremiere des polnischen Regisseurs Marcin Koszałka. In langen Einstellungen folgt der Film einem verschlossenen jungen Mann durchs Krakau der 60er. Ob er der gesuchte Serienkiller ist oder diese Rolle nur bis zum bitteren Ende annimmt, bleibt offen. Ausgebleichte, pastellfarbene Bilder reflektieren eine zwischenmenschliche Entfremdung, die bis in die Familien hineinreicht. Eine Art Film noir ist auch Marian Crişans »Orizont«, ein Lehrstück über Korruption und Rechtlosigkeit tief in den transsilvanischen Wäldern, wo sich ein Hotelbesitzer vergeblich gegen die Übergriffe von Mafia und Behörden zu wehren versucht und schließlich sein Recht selbst verfolgt. Wie ein Gegenentwurf zu diesen düsteren Parabeln wirkt der polnische Film »Sirenengesang«. In dem Erstling von Agnieszka Smoczyńska geht es um zwei männerfressende Meerjungfrauen, deren Beine bei Wasserkontakt zu riesigen Fischschwänzen mutieren. Der Film, eine in der Warschauer Clubszene der 80er Jahre angesiedelte schräge Mixtur aus Horror, Fantasy und Musical, gefällt durch seine Schwerelosigkeit, die vor allem durch eine häufig durch die Räume schwebende Kamera erzeugt wird.
Als besten Film zeichnete die Festivaljury unter Vorsitz des mazedonischen Regisseurs Karpo Godina den russischen Beitrag »Insight« aus. Kammerspielartig und symbolisch manchmal überdeutlich erzählt Aleksandr Kott von der Liebe der Krankenschwester Nadezhda zu dem durch einen Unfall erblindeten Pavel. Um dem jungen Mann ins Leben zurück zu helfen, aber auch um ihrer fade gewordenen Ehe zu entfliehen, verstrickt sich Nadezhda in ein doppeltes Spiel.
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