Verbrechen
Jedes Land, jede Kinematografie hat ein anderes Verhältnis zur Polizei, zum Verbrechen und seiner Aufklärung. Was die entsprechenden Genres anbelangt, Polizei- und Gangsterfilm, Thriller und Whodunit, gibt es in Deutschland eine drastische Lücke. Nicht nur, was die Jahre des Faschismus, sondern auch was die Zeit danach anbelangt, die Zeit der Restauration in der BRD und des Plenum-Kinos der DDR, in der es gewöhnliche Verbrechen eigentlich gar nicht geben durfte. Was damals entstand, waren das biedere Derrick-Format und der redliche Tatort im Fernsehen, außerdem Versuche im Kino, die Muster italienischer, französischer oder amerikanischer Genremodelle auf deutsche Verhältnisse zu übertragen.
Dominik Graf hat in beiden Feldern Markierungen gesetzt wie kein anderer. Sich selbst bescheinigt er eine »Vorliebe für Krimis und Thriller«; im Fernsehen wie im Kino hat er sich der Riesenaufgabe gestellt, die Crime-Genres zugleich zu reinstallieren und ihre Möglichkeiten zu erweitern: ein experimenteller Traditionalismus. Die meisten seiner Crime-Filme sind: gute Erzählungen, denen der Regisseur durch spezifische, fast immer erst einmal überraschende formale Eigenheiten eine besondere Not gibt. Er interessiert sich nicht für Heldenmythen, Ironisierung oder psychologische Aha-Effekte; Graf untersucht das Verhalten von Menschen »im Angesicht des Verbrechens«. Sie bewegen sich zwischen den Eckpunkten Melodrama, Tragödie und Drastik.
Gewiss gehört es zu Grafs Methode, immer wieder etwas Neues zu erproben, ob im vergleichsweise bescheidenen Budgetrahmen seiner 11 Der Fahnder-Folgen, oder im »teuersten deutschen Film aller Zeiten«, dem mit 12 Millionen Mark ausgestatteten Cop-Thriller Die Sieger. Aber es gibt wohl auch so etwas wie einen Meta-Crime-Film des Dominik Graf, und der erzählt die Geschichte der moralischen Entwurzelung des deutschen Bürgertums an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Er erzählt von Verschwörungen, in denen man sich verirren muss, von Plänen, die nicht aufgehen, von Cops, die wie Gangster ticken, und Kriminellen, die eigentlich Bürger sind. Graf bezeichnet seine Polizisten als »ordentliche Beamte, die nachts wie Freibeuter durch die Straßen ziehen«.
Einige der TV-Arbeiten von Dominik Graf, besonders die Fahnder-Folgen, beginnend im Jahr 1985, wirken wie Skizzen, leichthändige und manchmal auch flüchtige Zeichnungen. Dazwischen stehen die Arbeiten für die Serien Tatort und Polizeiruf 110, von denen einige den Rahmen der Serienproduktion deutlich überschreiten. In seinem ersten Tatort nahm er Götz George in seiner Schimanski-Rolle spürbar zurück und besetzte ihn auch in seinem Beitrag zur kleinen Serie Morlock (1992–1994) nicht nach Schema; mit George und Gudrun Landgrebe in den Hauptrollen gelang ihm in dem perfiden kleinen Bankraub- und Geisel-Thriller Die Katze (1988) einer der wichtigsten deutschen Genrebeiträge.
Die Sieger (1994), der gelegentlich wirkt, als wolle er die gesamte verpasste Genregeschichte in 130 Minuten nachholen, war der große kommerzielle Flop, der nicht nur Graf wieder zum Fernsehen zurückführte, sondern auch die Hoffnungen auf den großen deutschen Genrefilm zunächst wieder begrub. Dabei war die Geschichte mit dem totgeglaubten Polizisten, mit Kindsmördern, V-Männern und einer politischen Verschwörung, mit der durch die Mitarbeit von SEK-Beamten verstärkten Authentizität und einer Portion Drastik bei Sex und Gewalt durchaus eine Anthologie des Dominik-Graf-Crime-Kosmos. Doch statt des Unbehagens, den das Genre oft auslösen kann, stiftete Die Sieger vor allem Verwirrung.
In der Folgezeit wechselte Graf zwischen eher traditionellen und experimentellen Versuchen im Genre. Mit der Serie Im Angesicht des Verbrechens endlich gelang es ihm, seinen Ideenreichtum, seine Kunst der Schauspielerführung und seine große Geschichte (dieses Mal in einer Multiplot-Wiedergabe vom Wirken der russischen Mafia) vollständig miteinander zu verbinden. Kommerziell wollte dies auch wieder nicht wirklich glücken.
Wenn man Grafs Crime-Filme zusammennimmt, kommt gewiss so etwas wie eine deutsche Chronik dabei heraus. Weniger eine des Verbrechens, weniger eine der Polizeiarbeit und ihrer Abgründe als vielmehr eine Chronik der sozialen »Apparate«, des tiefen Staates, der organisierten Gegenwelten. Darin sind Menschen unterwegs, die in einer beständigen Bewegung des Ab- und wieder Auftauchens stecken. Es geht nicht darum, wie Menschen Verbrechen begehen, es geht darum, was das Verbrechen mit den Menschen macht. Das Geheimnis seiner gelungenen Arbeiten im Crime-Genre besteht darin, dass Graf sehr nahe an Menschen herankommt, die nicht gerade Sympathie erwecken, eher Interesse an einer sonderbaren Zerrissenheit, und dass man gleichzeitig eine Welt der Apparate, der Familien, der Gewissheiten sich auflösen sieht. Die Spannung zwischen beidem, dem hyperrealen Subjekt und der immer fremder werdenden Welt, die wachsende Unmöglichkeit, das eine noch mit dem anderen zu synchronisieren, führt auch zu seltsam zwiespältigen Gefühlen: Melancholie, Trauer, Sarkasmus, Zorn und gelegentlich schlichte Hysterie kommen uns da entgegen. Manchmal sehr sanft, manchmal so heftig wie eine Ohrfeige. In fast allen Crime-Filmen von Dominik Graf geht es um Menschen, die bei einer »gewaltsamen Selbstverwirklichung« scheitern. Aber der Welt, in der sie es tun, sieht man das dann auch an.
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Neben epd Film veröffentlicht Georg Seeßlen seine film- und medienkritischen Texte in überregionalen Zeitungen; er hat zahlreiche Bücher publiziert und bloggt hier: www.seesslen-blog.de
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