Bildmanöver

Karl Prümm über die Kamera bei Graf und sein »Kino der Intensitäten«

Dominik Graf ist ohne Zweifel der leidenschaftlichste Bildersucher des deutschen Gegenwartskinos. Beständig forscht er nach neuen visuellen Ausdrucksmöglichkeiten für seine radikalen und unbedingten Filme, die ihre Figuren immer wieder in einen Ausnahmezustand der Gefühle treiben und die hochkomplex erzählt werden. Den Bildern verlangt er ab, dass sie in jedem Moment die Geschichten vitalisieren und energisch vorantreiben. Bei der Suche lernt er eingestandenermaßen vom Bilddenken und der Bilderfahrung seiner Kameraleute. Einzigartig sollen die Bilder sein, eine unwiederholbare Konfiguration von Körper, Raum und Dingwelt darstellen. Die Form umschließt und vollendet Dominik Grafs Kino der Intensitäten, die Kameraarbeit  ist daher für ihn zentral. Nichts verabscheut er mehr als die glatten, routinierten, auf Effekt getrimmten Bilder. Die Grundimpulse aller Avantgarde- und Reformbewegungen der Filmgeschichte sind ihm  selbstverständliche Maxime, den Autorenfilm lehnt er aber entschieden ab, weil er eine Geschlossenheit des »Werks« und eine écriture, also die Wiederkehr fixer Ausdruckselemente, voraussetzt.

Natürlich erzeugen solche Grundhaltungen dann doch eine für Graf  typische Bildlichkeit. In vielen seiner Filme erweckt die Kamera gerade zu Beginn den Eindruck, als befände sie sich im Vorraum des Erzählens, in der Phase des Ausprobierens, auf der Suche nach Blickpunkten, Ausschnitten und Anschlüssen. Anscheinend gibt es keine vorgefertigte Strategie des Zeigens, sondern der Erzähler lässt sich überraschen durch die Schönheiten, die von der Kamera  quasi en passant entdeckt werden. Der Zuschauer wird eingestimmt auf ein offenes, unreglementiertes Sehen. Dominik Graf  bevorzugt die Handkamera und ihre Körperschrift, er liebt die Temposteigerungen durch Reißschwenks, durch ein plötzliches, schockartiges Ran- und Draufzoomen. Der fahrige Kameragestus, die kunstvolle Nichtperfektion – all das kann, wie an manchem Dogma-Film zu sehen ist, zur Manie werden und dem Zuschauer gehörig auf die Nerven gehen. Dieser Gefahr entgegnet Graf mit unerwarteten Bildmanövern, mit einem Distanzblick, wenn alles für eine Nähe spricht, mit einem Erzählen durch Verbergen, Andeuten und Aussparen. Seine unerhörte Beweglichkeit im Stofflichen tut hier ein Übriges, sein Sprung in Bilderwelten, die niemand von diesem Regisseur erwartet hätte. Das Gelübde (2007) und nun Die geliebten Schwestern sind dafür markante Beispiele. 

Vielleicht hat sich Dominik Graf auch deshalb für den Polizeifilm als das ureigene Terrain seines Erzählens entschieden, weil in diesem durch das Fernsehen rücksichtslos ausgebeuteten Genre die bis zur Erschöpfung reproduzierten Bildmuster vorherrschen und die Entwicklung einer davon abweichenden Bildästhetik eine besondere Herausforderung bedeutet. Von den frühen Folgen für die Serie Der Fahnder (1985 -93) bis hin zum 10-teiligen Epos Im Angesicht des Verbrechens (2010)  lassen sich seine Versuche  verfolgen, neue Bilder für den Polizeifilm zu finden und das Genre lebendig zu halten.

In Die Katze (1988) greift die Teleoptik der Beobachtung und der Kontrolle, die der Anführer der Bankräuber und Geiselnehmer benutzt, um aus einer gottähnlichen Höhe das Geschehen zu dirigieren, auf den ganzen Film über. Die abgeflachten und raumlosen Bilder deuten auf die Vergeblichkeit voraus, mit den erpressten Millionen in ein neues Leben zu entfliehen.

»Der Skorpion« (1997)

Der Skorpion (1997) experimentiert mit den Bildtechniken der Subjektivierung, hebt die Grenzen von Innen und Außen auf, gleitet hinüber in die Erinnerung, den Traum, den Drogenrausch. Besonders mitreißend gestaltet sind die Nahtstellen, an denen die innere Kamera ihren Standort wechselt und so urplötzlich mit anderen Augen erzählt wird. Durch die mitagierende, involvierte, körpernahe Kamera in Das unsichtbare Mädchen (2011) übertragen sich die Energien der Figuren, die Machtgier des oberfränkischen bad cop und der unerschütterliche Aufklärungswille des ungleichen Ermittlerduos, auf die Bilder, bis sie zu vibrieren beginnen. Der Polizeifilm ermöglicht Graf das ausgeprägt physische Kino, das er so sehr verehrt. Hier lassen sichKarl Prümm, Prof. em., lehrte Medienwissenschaft in Marburg und initiierte den Marburger Kamera­preis; er publiziert über Ästhetik und Geschichte der Literatur, der Fotografie, des Films und Fernsehens.

Kampf, Aktion und Handlungsmächtigkeit vorführen, die sich in unserer erkalteten Zivilisation verlieren. In seinen Filmen fließt viel Blut, das er in einem ganz archaischen Sinn als Lebenssaft benutzt, der seine Geschichten durchströmt. Blut und Verwundung zeigen an, dass es immer um alles geht, um Leben und Tod. Den Zuschauer lässt Graf nicht so leicht davonkommen, wie er es vom Standardkrimi gewöhnt ist. Der Zuschauer soll dem Verbrechen ins Angesicht schauen und der eigenen Abgründe gewahr werden. Gewalt, Mordgier, die Lust am Quälen und Demütigen zeigt er in einer ungeschminkten Direktheit. Die Bilder sollen wehtun und einschneiden. Stets wird die Gewalt psychologisch und sozial genau verortet. Meist sind es die servilen Zwischenträger der Macht, die ihre destruktiven Energien hemmungslos ausleben.

Im reichen Werk von Dominik Graf gibt es noch eine Gruppe von Filmen, die durch die Form der Bilder eine fantastische Intensität erreichen, die in ihrer Besonderheit noch nicht markiert und gewürdigt sind. Seit dem zusammen mit Michael Althen gedrehten Film über seinen Vater, den Schauspieler Robert Graf (Das Wispern im Berg der Dinge, 1997) spricht Dominik Graf  verstärkt in filmischen Bildern über sich selbst, über seine Heimatstadt München (Geheimnisse einer Stadt, 2000), über eine Begegnung mit einem Autor, bei dem er viele Schnittpunkte zu eigenem entdeckt (Lawinen der Erinnerung. Ein Film über Oliver Storz, 2012), über seine Erfahrungen mit dem alten, dem untergegangenen Fernsehen (Es werde Stadt!, 2014). Bilder, Stimme, Musik, Interviews und Zitate verdichtet Graf in einzigartiger Weise zu einem Gewebe, zu einer neuen Textur, die den Zuschauer durch Zärtlichkeit, Genauigkeit, Schärfe des Sehens und durch die Kühnheit, mit der die Detailbeobachtung ins Allgemeine gewendet wird, in den Bann zieht.

alle Artikel zum Thema "Wie machen Sie das, Herr Graf?"

Karl Prümm, Prof. em., lehrte Medienwissenschaft in Marburg und initiierte den Marburger Kamera­preis; er publiziert über Ästhetik und Geschichte der Literatur, der Fotografie, des Films und Fernsehens.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt