Der Einstieg
Der Titel wird größer: Im Angesicht des Verbrechens, alle folgenden Nennungen, die Nachnamen der Schauspieler, des Drehbuchautors und des Regisseurs, kleiner: Riemelt, Bäumer, Maticevic, Zehrfeld, Levshin, Nesytowa, Basedow, Graf. 12 Sekunden, der kürzeste Vorspann, den eine Fernsehserie je hatte. Mit gegenstrebigen Bewegungen, wie die knappen Schriftzüge sie hier vollführen, eröffnet Dominik Graf ganz oft seine Filme.
Kalter Frühling zum Beispiel, ein Fernsehfilm von 2004, beginnt mit der Erkundung eines Waldstücks: Kamera nach links, Kamera nach rechts, Reihen unbenutzter Gartenstühle unter einem gewaltigen Baum, die Kamera schwenkt rauf, auf der Straße kommt rasch ein Wagen näher, am Steuer eine junge Frau, sie fährt die Einfahrt zu einer Villa hoch, bleibt dahinter stehen; über den Kiesparkplatz hetzt ein Mann auf das Haus zu, lässt ein paar Papiere fallen, Kamera zurück, Mann zurück, Papiere aufklauben, weiterhetzen. Man hört Gesprächsfetzen, sieht im Hintergrund durch die gläserne Verandatür den Hausherrn in einer geschäftlichen Besprechung; ein Hund begrüßt die junge Frau freudig, sie betritt die Villa durch die Küche, klopft ihrer Mutter auf den Po: »Ach, Sylvia«, meint jene überrascht, »du bist früh.
Ja, genau! In einem französischen Kriminalfilm, bei Chabrol etwa, wo sich dieser Wald und diese Villa ebenso gut befinden könnten, würde Sylvia (Jessica Schwarz), eine Tochter aus bester Familie, die zum Geburtstag ihres Vaters nach Hause kommt, wahrscheinlich grad erst von der Autobahn abbiegen. Dominik Graf ist ungefähr dreimal so schnell unterwegs wie die meisten seiner Regiekollegen: Er führt den Zuschauer nicht in die Geschichte ein – er stürzt ihn kopfüber in den Film.
Ein ganzes Arsenal gestalterischer Mittel wird dafür mobilisert – die Kamera: entfesselt, das Objektiv: wie aus Gummi, der Schnitt: gewitternd, die Tonspur: druckvoll komponiert, mit verschiedenen, einander überlappenden Ebenen. Man höre Die Beute von 1988, ein frühes Nebenwerk, allerdings mit Hannes Jaenicke und Martina Gedeck, das anhebt mit einem Wirrwarr aus lauten Geräuschen und Musiken, ganz swingin’ Schwabing. Druck zu machen über den Ton, so Graf, habe er sich von Nicolas Roegs Wienfilm Bad Timing abgeschaut – im Bestreben, deutschen Städten akustisch »etwas New York« mitzugeben.
Bei allem Drang zur großen Geste will Dominik Graf – und wollen seine Filme, zumal die fürs Fernsehen gemachten – weniger aufs Mythische hinaus denn auf leicht zerfleddernden Realismus, in den Worten des Regisseurs: aufs Provinzielle. Das vielleicht schönste Beispiel dafür ist die Eröffnungssequenz seiner Münchener Tatort-Folge Aus der Tiefe der Zeit (2013), in der Kommissar Leitmayr auf der Fahrt ins Westend in ein Chaos aus Baustellen und Umleitungen gerät: Eine grandiose Montagesequenz, untermalt von einer Kakophonie der Großstadt, die sich mit Kurzschnitttechnik, wiederholten Achsensprüngen und Jump Cuts über ziemlich alle Gepflogenheiten des öffentlich-rechtlichen Hauptabendprogramms hinwegsetzt.
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Michael Omasta ist Filmbuchautor (u.a. John Cook, Haneke, Karmakar) und Redakteur bei der österreichischen Wochenzeitung »Falter«.
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