Spiel mit der Realität
"Verglichen mit Der Soldat James Ryan ist mein Film doch alles andere als extrem", sagte der kanadische Regisseur David Cronenberg vor Journalisten zu seinen Film eXistenZ im Berlinale-Wettbewerb. Die Frage hatte auf einige blutige Szenen im neuen Werk gezielt. Aber Cronenberg machte deutlich, daß ihm ein platter Naturalismus nicht liegt. Immer schon setzten sich seine Filme mit dem Phänomen der Wirklichkeit auseinander, mit dem Verhältnis von Realität und Täuschung. Der Film ist ein Medium der Illusion, und im Verlauf der Filmgeschichte haben Regisseure immer wieder mit den Wirklichkeitsebenen gespielt, etwa als Film-im-Film-Erzählung oder auch als Virtual-Reality-Spektakel. Eine Film-im-Film-Geschichte etwa erzählt der spanische Wettbewerbsbeitrag La Nina de tus Ojos (Das Mädchen meiner Träume) von Fernando Trueba: Eine spanische Filmcrew dreht 1938 in den Berliner Ufa-Studios ein andalusisches Musical und wird nicht nur mit dem lüsternen Propagandaminister Goebbels, sondern auch mit Konzentrationslagerinsassen als Komparsen konfrontiert.
In eXistenZ allerdings hat Cronenberg das Spiel mit der Realität auf die Spitze getrieben. Sein Film stellt, nachdem er den Zuschauer einige Zeit in Sicherheit gewiegt hat, permanent die Frage: Ist es nun Realität oder eine Illusion, der sich die Figuren gerade hingeben? Denn eXistenZ ist ein neues Cyber-Spiel, eine virtuelle Welt, ersonnen von der bekannten Game-Designerin Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh). Wer nun bei Cyber-Space an Computer denkt, kennt das Universum des David Cronenberg nicht: In eXistenZ gibt es keinen einzigen Monitor, das Modul des Spiels ist ein "Game Pod" auf biologischer Basis, ein schlabbriger Organismus, der über einen "Bioport" an der Wirbelsäule direkten Zugriff auf das Nervensystem des Spielers hat. Als auf Allegra Geller ein Attentat verübt wird - übrigens mit einer Waffe aus Knochen, die mit Zähnen schießt - flüchtet sie mit dem Vertriebspraktikanten (Jude Law). Beide klinken sich in das Spiel ein, um es auf Beschädigungen zu testen. Für den Zuschauer wird es immer schwerer zu unterscheiden, ob die beiden in "ihrer" Realität sind oder in einer Stufe des Spiels, in dem auf den Kopf der Designerin Geller eine Belohnung ausgesetzt wird.
Der Franzose Bertrand Tavernier geht da einen anderen Weg. Sein Spielfilm Ca commence aujourd´hui (Es beginnt heute) wirkt, als wäre er nicht inszeniert, sondern fange Realität direkt ein. Es geht um den Direktor einer Vorschule in einer wirtschaftlich armen ehemaligen Bergarbeiterstadt. Die Schule ist ein sozialer Brennpunkt, hier zeigen sich Verwahrlosung, Arbeitslosigkeit, Mißhandlung, Mittelkürzung der öffentlichen Hand, Unverständnis der Behörden. Tavernier, dessen Polizeifilm L 627 (1991) schon wie ein Dokumentarfilm wirkte, hat Es beginnt heute vollkommen undramatisch in Szene gesetzt. Es gibt keinen grundlegenden Konflikt - aber viele Gegner. Es beginnt heute ist eine Abfolge alltäglicher Episoden und letztlich laufen alle Bemühungen des Direktors ins Leere. So wie der deutsche Film gerade die Hauptstadt Berlin als Kulisse entdeckt, so interessiert sich der französische mehr und mehr für seine Provinz, und nach La Vie de Jesus (1997) und Liebe das Leben (1998) ist Taverniers Film der dritte innerhalb kürzester Zeit, der im Norden spielt.
Wim Wenders dagegen hat einen echten Dokumentarfilm gedreht, Buena Vista Social Club (außer Konkurrenz). So hieß ein von Ry Cooder produziertes Album, auf der er Legenden der kubanischen Musikszene der älteste ist über 90 Jahre - versammelte. Wenders war 1998 mit Cooder, der unter anderen die Musik zu Wenders´ Film Ende der Gewalt schrieb, nach Kuba gereist. Er dokumentierte die Arbeit an einer neuen Platte und zwei Konzerte in Amsterdam und New York. Die Musiker sprechen zwar über ihr Leben, aber im Vordergrund des Films steht die Musik. Buena Vista Social Club, auf Video gedreht, ist ein ganz und gar schnörkelloser Dokumentar- und Konzertfilm, der es versteht, die Spiellaune der Musiker auch auf den Zuschauer zu übertragen.
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