Kritik zu Zombi Child
Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit: Bertrand Bonello mischt in seinem neuen Film sehr effektiv Motive des Horrorfilms mit Mädcheninternatsdrama und zeigt damit komplexe Verstrickungen von postkolonialem Erbe und Popkultur im republikanischen Frankreich
Fanny interessiert sich gleich für die Neue in der Klasse, auch wenn sie nicht so richtig schlau wird aus dem Mädchen aus Haiti. Doch Mélissa liebt Horrorfilme und mag dieselbe Musik wie sie, also kann sie nicht ganz daneben sein. Die anderen Schülerinnen mustern sie zunächst nur aus dem Augenwinkel. Wer ist dieses Mädchen, das nachts so furchterregende Geräusche macht? Fanny setzt alles daran, dass Mélissa Teil der Clique wird.
Das Elite-Internat in Saint-Denis, an dem diese Töchter von Mitgliedern der Ehrenlegion in französischer Staatsphilosophie und Literatur, Ethik und Moral unterrichtet werden, wurde 1804 von Napoleon gegründet. Hier ist die Vergangenheit der Grande Nation mit all ihren Widersprüchen noch sehr lebendig. Die strengen Regeln und Traditionen, mit denen die Mädchen hier standesgemäß erzogen werden, wenden diese leicht verdreht auch untereinander an, wenn sie sich als Girl-Gang für zeitgenössische Literatur bezeichnen, untereinander verschwörerisch als »Schwester« ansprechen und neue Mädchen nur nach einem Initiationsritual aufnehmen. Eine eigenartige, grazile Melancholie liegt auf diesen privilegierten Töchtern, sie erinnern an die fünf Schwestern aus Sofia Coppolas Regiedebüt »The Virgin Suicides« (1999). Kein Wunder, dass sie sich für die Voodoorituale aus Mélissas alter Heimat interessieren, die ihnen zugleich vertraut und in ihrer dunklen Unergründlichkeit faszinierend fremd erscheinen.
Mit dieser eigenwilligen und immer wieder irritierenden Mischung aus Internatsdrama und artifizieller Horrorstudie, in der Kolonialgeschichte, Sklaverei und Gesellschaftsanalyse mitvibrieren, befreit der französische Autorenfilmer Betrand Bonello (»Nocturama«, »Haus der Sünde«) den Zombie-Mythos von popkulturellen Aneignungen und legt den Ursprung im haitianischen Volksglauben offen. Er gibt damit den lebenden Toten ihren eigentlichen Schrecken – und auch ihre Schönheit – zurück. Seine Bilder, vor allem die unter widrigen Umständen in Haiti gedrehten, taucht er immer wieder in schemenhafte Dunkelheit, eine nicht greifbare Zwischenwelt. Umso expressiver erscheint die Tonebene, zwischen tropischen Geräuschen und dem von Bonello komponierten Score, betörend und im besten Sinne verstörend.
Ganz ohne Popkultur kommt auch Bonello nicht aus, wenngleich mit einem Augenzwinkern. In einem Referat bekennt sich Mélissa, die Nachfahrin eines Zombie, als Verehrerin von Popstar Rihanna. Und auch die anderen Mädchen sind trotz Schuluniform und ehrenwerter Vorfahren letztlich ganz normale Teenager, die sich über angesagte Modelabels unterhalten, nicht jugendfreie Tracks des belgisch-kongolesischen Rappers Damso mitsingen und sich mit ihren Smartphones in den sozialen Medien gegenseitig stalken. Ihre sehr zeitgemäßen Rufe nach Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit sind vielleicht ganz im Sinne der Französischen Revolution.
Als Fanny von ihrem Schwarm Pablo, dem sie glühende Nachrichten geschickt hat, kühl abserviert wird und vor Unglück glaubt, sterben zu müssen, erhofft sie sich durch Voodoozauber dessen Liebe erzwingen zu können. Wie Fanny schließlich Mélissas Tante, die als sogenannte Mambo, Priesterin des Voodoo, diverse Beschwörungsrituale kennt, als Mädchen aus der weißen Oberschicht Frankreichs mit den ihr gegebenen Bestechungstricks überzeugt, und was Bonello dabei nonchalant an postkolonialem Diskurs mitschwingen lässt, gehört zu den eindrücklichsten Momenten dieses schillernden Films.
»Zombi Child« ist jedoch weder eine trockene Abhandlung über historische Verantwortung und kulturelle Appropriation noch bloße Genrespielerei, sondern ein mit erstaunlich wenig technischen Tricks inszeniertes Kino des Unheimlichen, in dem die Grenze zwischen Leben und Tod, Realität und Imagination infrage gestellt und das Irrationale zur geistigen Stimulanz wird.
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