Kritik zu Haus der Sünde
So entrückt wie realistisch, melodramatisch wie sachlich erzählt Bertrand Bonello vom Alltag eines Bordells um 1900
Auf den ersten Blick wirkt Bertrand Bonellos »Haus der Sünde« wie aus der Zeit gefallen: nicht nur wegen seines Themas, es geht um ein Pariser Vorstadtbordell im ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern vor allem wegen seines Stils – ein fast träge zu nennender, nostalgisch anmutender Kostümfilm, in dem ausgiebig dem Trübsinn und der Langeweile gehuldigt wird, während Erotik, Sex und sexuelle Obsessionen fast keine Rolle spielen. Doch mit der Zeit entwickeln sich die se scheinbaren Schwächen zu den eigentlichen Stärken des Films. Der langsame Erzählfluss – eine Handlung in dem Sinne gibt es gar nicht – lässt mit seltener Schärfe den prekären Status der Prostituierten hervortreten, ihr jeweiliges Gefangensein in Situationen von Überschuldung, Krankheit, falschen Hoffnungen, verschiedenen Abhängigkeiten oder auch einfach Lebensangst. Die nostalgische Stimmung verwandelt sich in eine Wehmut ganz anderer Art – ein tiefes Bedauern darüber, dass sich heute vielleicht die äußeren Umstände, nicht aber die inhärenten Zwangsverhältnisse im Prostitutionsgeschäft geändert haben.
Wie ein unbeteiligter Hausgast protokolliert die Kamera den Alltag der »Mädchen« im Bordell. Da gibt es die schwesterlichen Gesten der Solidarität, es werden Gesundheitstipps ausgetauscht, man leistet sich ein wenig leicht verächtlichen Tratsch über die Freier im gemeinsam benutzen Badezimmer. Über allem liegt eine nie ganz zu vertreibende Müdigkeit, in der sich auch Überdruss andeutet, ein Bewusstsein über die Ausweglosigkeit der eigenen Lage. Zwölf Jahre sei sie schon da, erzählt irgendwann Clotilde (Céline Sallette), am Anfang habe sie geglaubt, schnell wieder draußen zu sein, aber heute wisse sie gar nicht mehr, wohin sie denn gehen sollte. Einer der Dauergäste überschüttet sie mit Liebeserklärungen. Dann geht er eines Abends mit einer anderen nach oben. Und Clotilde, mit den Augen einer, die es schon vorher gewusst hat, ergibt sich der Opiumsucht.
Kleine Geschichten dieser Art fügt der Film zu einem lockeren Erzählgewebe, in dem es einen roten Faden gibt: das Trauma von Madeleine. Auch sie hatte einen regelmäßigen Freier, der sie zu Träumen anstiftete. Eines Nachts erlaubt sie ihm, sie zu fesseln. Und wird auf grausame Weise von ihm verstümmelt. Als »die Frau, die lacht« führt sie ab da ein geduldetes Schattendasein im Bordell. Sie kocht und wäscht, und ab und zu gibt es Klienten, die sich für »das Monster« interessieren. Zur Szene ihrer Verstümmelung kehrt der Film mehrfach zurück, gegen den Willen des Zuschauers, möchte man sagen. Dabei wird nicht die Verletzung als Akt gezeigt, sondern das Machtverhältnis, das ihn möglich machte. »Ich zahle, also entscheide ich«, sagt der Freier, als Madeleine ihn bittet aufzuhören – um ihr dann die Mundwinkel aufzuschneiden.
Nur selten verlässt die Kamera die nicht eben üppig ausgeleuchteten Bordellräume. Obwohl die Frauen oft mit entblößten Oberkörpern zu sehen sind, kippt der Blick nie ins Voyeuristische. Statt das Interesse am Sex zu stimulieren, dämpft »Haus der Sünde« ihn eher ab. Wenn sie je rauskäme, würde sie keine Liebe mehr machen, nie mehr, sagt eines der Mädchen. Und man begreift sehr gut, warum.
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