Kritik zu The Woman Who Left
Bereits 2016 wurde er auf dem Filmfestival in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, nun kommt Lav Diaz' von Tolstois Kurzgeschichte »Ein Verbannter« inspirierter Film über eine Frau, die sich rächen will, doch noch in die Kinos
Auch hier müssen wir noch einmal über Länge reden. Nicht nur weil die zum Markenzeichen von Lav Diaz geworden ist und den philippinischen Regisseur verständlicherweise als Interviewdauerthema nervt. Manche Bemerkungen über das für Diaz' Filme erforderliche Sitzvermögen sind arg anekdotisch und oberflächlich. Aber selbstverständlich ist die Erzählzeit im Film ein wichtiges ästhetisches Kriterium, und die Befreiung vom 90-Minuten-Standard erlaubt Erzählweisen, in denen sich die einzelnen Situationen nicht mehr der Plotökonomie unterordnen müssen. So auch hier, dabei ist »The Woman Who Left« mit 230 Minuten eine Short Story im Vergleich zu den auf der Berlinale 2016 gezeigten 485 Minuten von »A Lullaby to the Sorrowful Mystery« oder zu dem Zehn-Stunden-Epos »Evolution of a Filipino Family« von 2005.
Auch thematisch ist Diaz' Arbeit von Kontinuitäten geprägt: von der intensiven Beschäftigung mit der gewaltreichen Geschichte seines Landes und seinen sozialen Verwerfungen und dem kontinuierlichen Befragen der großen moralischen Konflikte um Schuld, Liebe, Vergebung und Rache. Eng damit verbunden ist – in einem stockkatholischen Land – die Frage nach dem Glauben. Die beiden letzten Aspekte stehen in »The Woman Who Left« im Vordergrund, während der historische Hintergrund diesmal (der Film spielt im Jahre 1997) wohl vor allem als Spiegel zur aktuellen prekären Menschenrechtslage zu verstehen ist.
Der Film beginnt mit einer Totale auf ein baumumstandenes Feld, auf dem einige Frauen Pflanzen hacken und sich unterhalten. Dass Uniformierte zwischen ihnen herumspazieren, fällt erst nach einer Weile auf, in einer weiteren Szene müssen die Frauen nach beendetem Tagewerk Hacken und Schaufeln bei ihnen abgeben. Auch eine Einstellung auf eine Gruppe Frauen unterschiedlichen Alters, die vor einem Gebäude um eine Art Lehrerin geschart sind, wirkt fast idyllisch. Langsam offenbart sich, dass diese Lehrerin die Hauptfigur ist, der Ort ein Gefängnis. Recht schnell gibt es auch eine rasante Wendung. Denn Horacia wird nach 30 für einen Mord verbüßten Jahren überraschend aus dem Gefängnis entlassen. Sie war unschuldig, Opfer der Intrige eines verlassenen Liebhabers; die von ihm gedungene wahre Täterin offenbarte sich nun der Justiz. Doch draußen ist es für Horacia nicht unbedingt besser. Ihr Mann ist verstorben, ein Sohn verschollen. Nur eine Tochter, die sie in der gesamten Haftzeit nie besucht hat, gibt es. Horacia reist in den Norden, wo der Intrigant Rodrigo wohnt, ein von Leibwächtern geschützter reicher Mann.
In fünf eng miteinander verschmolzenen Episoden und meist unbewegten Halbtotalen fächert Diaz Horacias widersprüchliche Existenz auf. Während sie in langen Nächten als tougher Kerl mit Basecap durch die Straßen zieht, belauert sie tagsüber mit einem züchtigen Spitzentuch bedeckt die protzige Kirche, wo Rodrigo ein- und ausgeht. Eine Waffe wird erworben, das Hantieren mit ihr ausgiebig ausagiert. Horacias Begleiter kommen vom äußersten Rand der Gesellschaft: ein philosophierender Straßen-Snackverkäufer; eine obdachlose Bettlerin; und die psychisch und körperlich angeschlagene Transfrau Hollanda, die von Horacia fürsorglich aufgenommen wird und der von einer Tolstoi-Erzählung vage inspirierten Rachefabel im Hintergrund die entscheidende Wendung gibt. Am schönsten aber ist, wenn sie mit Horacia im Duett inbrünstig »Somewhere there's a place for us« aus der »West Side Story« singt.
Viel Dunkel gibt es und präzise gesetztes Licht in den kunstvoll gebauten Tableaus. Dabei gelingt es Diaz an der Kamera so meisterlich, das digitale Schwarz-Weiß poetisch zu verdichten, dass man manchmal einfach auf das Lesen der Untertitel verzichten möchte. Mehr als ein Insiderscherz ist die Besetzung der Hauptrolle mit der mächtigen (sie steht auch hinter der Produktionsfirma des Films) und hier großartig agierenden Filmproduzentin Charo Santos-Concio. Gewonnen hat Horacia für sich am Ende nur eine neue Aufgabe: Im Großstadtgewimmel von Manila mit Handzetteln ihren verschwunden Sohn zu suchen.
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