Kritik zu Wendy and Lucy
Es ist eigentlich ein Alptraum: eine junge Frau, mittellos, allein, am Rande des Nichts. Aber Kelly Reichardt und ihre Hauptdarstellerin Michelle Williams schlagen leise Töne an – und berühren umso nachdrücklicher
Die Route von Indiana in den hohen Norden nach Alaska führt durch einige der ödesten Landstriche der USA. Das Mädchen Wendy bleibt auf halber Wegstrecke im waldreichen Oregon stecken, weil ihr alter Honda den Geist aufgibt. Oregon ist von allen Optionen nicht die schlechteste (Gus Van Sant hat seine triste Schönheit im Kino verewigt), aber das Kaff, in das es sie verschlägt, ist wie heute so viele amerikanische Kleinstädte vom Verfall gezeichnet. Der schleichende Kollaps von Wendys Leben könnte keinen passenderen Ort finden. Ihr Hund Lucy ist außer dem Auto Wendys einziger verbliebener Besitz. Woher sie kommt und was das Mädchen in diese missliche Lage gebracht hat, lässt Regisseurin Kelly Reichardt offen. Ihr Film vermeidet Verallgemeinerung oder Symbolik. Bezeichnendermaßen ist er nach seinen beiden Hauptfiguren schlicht »Wendy and Lucy« betitelt.
Die amerikanische Kritik ließ es sich trotzdem nicht nehmen, wiederholt auf die Aktualität der Finanzkrise hinzuweisen. Kelly Reichardt selbst bezeichnete ihren Film in einem Interview auch als Post-Katrina-Tragödie. Man muss so weit jedoch gar nicht gehen. »Wendy and Lucy« bezieht seine Dringlichkeit nicht aus Zeitungsschlagzeilen, sondern allein aus den konzentrierten, dabei stets ruhigen Beobachtungen seiner Regisseurin. Was passiert, wenn ein Mensch sich unvermittelt und vollkommen auf sich gestellt in den Trümmern seiner Existenz wiederfindet, beschreibt Reichardt mit einer Sachlichkeit und Empathie, die allenfalls mit den Filmen der belgischen Brüder Dardenne vergleichbar ist. Und wie die Dardennes hat Reichardt eine Hauptdarstellerin gefunden, die die Bürde dieser Geschichte ganz allein auf ihren schmalen Schultern – beziehungsweise in ihrem erschöpften, jedoch niemals verzagten Gesicht – zu tragen vermag.
Man kann Williams' Leistung gar nicht hoch genug bewerten in einem Film, der von einer allenfalls minimalen äußeren Bewegung getragen wird, die ihn immer wieder an dieselben Orte zurückführt: den Supermarkt, deren alternder Wachmann Wendys einzigen Verbündeten darstellt, die Autowerkstatt, das Tierheim. Ihre verzweifelte Suche nach Lucy entwickelt sich sukzessive zu einer Metapher für die Sehnsucht nach menschlicher Würde. Stumm kämpft Wendy um ihre Existenz – gerahmt von Reichardts langen Plansequenzen, die Williams immer wieder auf sich allein stellen. Sie und ihre Figur meistern die Herausforderung mit einem Höchstmaß an menschlicher Empfindungsgabe. Im Moment größter Einsamkeit opfert Wendy das Letzte, was ihr im Leben noch etwas bedeutet.
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