Kritik zu Vision – Aus dem Leben der Hildegard von Bingen
Die gelehrte Nonne Hildegard verkauft sich derzeit ganz gut. Aber Margarethe von Trotta macht in ihrem neuen Film keine Konzessionen an den Trend, sondern entfaltet ihr ganz eigenes Universum
Ein Biopic über eine mittelalterliche Mystikerin ist ein schwieriges Unternehmen – so ein Film könnte heute als Vehikel für merkwürdige Erweckungsbotschaften oder gruseliges Fantasykino mit Spökenkiekerei daherkommen. Margarethe von Trotta hat mit Mittelalter-Bombast nichts im Sinn, es widerspräche ihrer Vorstellung von AutorInnenkino. Sie bleibt sich als Drehbuchautorin und Regisseurin treu, auch wenn sie das Leben der Nonne Hildegard von Bingen auf die Leinwand bringt.
Weibliche Emanzipation, das Thema vieler ihrer Filme, interessiert von Trotta auch am Beispiel des ungewöhnlichen Lebenslaufs der klugen Hildegard. Vision ist ein gelungenes Frauenporträt, das eine Sprache und einen Schauspielgestus findet, mit dem die fromme Hildegard, die vor rund tausend Jahren lebte, als vital und »körperfreundlich«, als gelehrte Klosterchefin, starke Verhandlungsführerin und Taktikerin dargestellt wird.
So erzählt »Vision« kaum die barbarischen Klischees unseres Mittelalterbildes nach, sondern stellt ein exemplarisches Gegenmodell, eine Inkarnation der emotionalen Intelligenz vor, wie sie der zeitgenössischen Psychologie vorschwebt. Bei von Trotta beweist die Gründerin des mittelrheinischen Klosters Rupertsberg moderne Führungsqualitäten, sie stellt die von Hildegard von Bingen gelehrte Balance zwischen den »Kräften der Seele und des Geistes«, der Musik und der Heilkunde, der Natur und dem in ihr tätigen Menschen eher als göttlichen Forschungsauftrag denn als Geheimwissen dar. Ihr Film biedert sich dem zeitgenössischen esoterischen Marketing, das den Ruhm der Mystikerin Hildegard in hohen Umsätzen realisiert, nicht an, demontiert diesen Ruf jedoch auch nicht. (Kaufappelle zu Heilsteinen, Heilkräutern und meditativer Chormusik begleiten den Filmstart allemal.)
Vielmehr erzählt die Regisseurin die Karrieregeschichte einer unbeugsamen, wissensdurstigen Frau in der katholischen Männerwelt, sie bricht den Heiligenschein auf das Charisma eines Mittelalter-Popstars herunter, den die Jüngerinnen, zumal der enthusiastische Teenager Richardis von Stade (Hannah Herzsprung), glühend verehren. Barbara Sukowa gibt ihrer Figur auch unter dem Schleier der Klostertracht die Züge einer modernen Frau, die ihr Menschenbild gegen den Vorwurf des Eigennutzes und der Ehrsucht durchsetzen muss. Die mystischen Gesichte, die Hildegard seit frühester Kindheit erlebte und die sie in ihren Schriften der Nachwelt überlieferte, sind als kurze Schlaglichter, als Himmelszeichen mit dem ikonografischen Auge Gottes etwa, visualisiert – ein Understatement, dem die psychische Ausstrahlung der Hauptfigur mehr am Herzen liegt als die Illustration einer Offenbarung.
Margarethe von Trotta erzählt den Lebenslauf der Hildegard von Bingen von deren ersten Jahren im Benediktinerkloster Disibodenberg, in das sie als achtjährige Tochter einer adligen Familie eintritt, bis zu einem offenen Ende, das die ungefähr sechzigjährige Nonne, Heilkundige und Komponistin im Aufbruch zeigt – bereit zu Predigerreisen, um ihr Wissen weiterzugeben. Die Szenen mit der nicht sehr überzeugend geführten Kinderdarstellerin von Hildegard (Stella Holzapfel) konzentrieren sich auf das enge Verhältnis, das ihre »geistige Mutter«, die Nonne Jutta von Sponheim (Mareile Blendl), zu dem begabten Mädchen und seiner Freundin Jutta aufbaut. Die tiefe Freundschaftsbeziehung aber auch Konkurrenz der beiden »Schwestern« ist ein wiederkehrendes Motiv im Film, Auslöser für einen Diskurs über die destruktiven Folgen des Neids – beides Grundthemen auch in anderen Filmen von Trottas, so in »Die bleierne Zeit« oder »Schwestern« oder »Die Balance des Glücks«. Die geschlossene Welt des Frauenklosters ist in »Vision« in oft dunklen, von Kerzenschein ausgeleuchteten Bildern eingefangen. Wenn Hildegard und ihre Freundin ihre verstorbene Ziehmutter zur rituellen Waschung entkleiden und dabei die Wunden ihrer Selbstkasteiung entdecken, vermittelt sich der Impetus der jungen Frau, Körper und Seele, Fleisch und Geist als harmonische Einheit zu begreifen, unmittelbar. Hildegard von Bingens selbst geschaffene Klosterwelt ist heller.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns