Kritik zu Vesper Chronicles
In der französisch-litauischen Koproduktion wird ein »neues dunkles Zeitalter« imaginiert, in dem wenige Privilegierte in abgeschotteten »Zitadellen« leben, während der Rest der Menschheit auf einer zerstörten Erde nach Nahrung sucht
Wie sich die Dystopien gleichen: Eine kleine Kaste von Privilegierten lebt räumlich hoch oben isoliert vom Rest. Der vegetiert in von Schlamm bedeckten Landstrichen dahin, sehr einfach gekleidet, so dass der Zuschauer zuerst denkt, er befinde sich im Mittelalter – bevor er in den Bildern Artefakte entdeckt, die klarmachen: Wir befinden uns in der Zukunft.
In »Vesper Chronicles« ist das eine Drohne in fast quadratischer Form, auf der einen Seite mit Strichen bemalt, die an ein Smiley erinnern. Sie begleitet die Protagonistin dieses Films, Vesper, ein Mädchen von vielleicht 14 Jahren, bei ihren Streifzügen durch die Wälder. Dank der Drohne kann sie mit ihrem Vater kommunizieren, der gelähmt zu Hause in seinem Bett liegt. Seine Stimme mag ihr Anweisungen geben, dabei ist schnell klar, dass Vesper diejenige ist, die über ihre Zukunft entscheidet.
Wir befinden uns in einem »neuen dunklen Zeitalter«, wie eine Texteinblendung zu Beginn des Films informierte. Der Versuch der Menschheit, den bevorstehenden ökologischen Kollaps durch massive Investitionen in Gentechnologie zu verhindern, ist fehlgeschlagen. Gezüchtete Viren und Organismen aus den Laboren vernichteten in der Außenwelt Pflanzen, Tiere und große Teile der Menschheit. Während eine neue Oligarchie sich in abgeschlossene Städte, genannt »Zitadellen«, zurückgezogen hat, kämpfen alle anderen um ihr Überleben. Um sich zu ernähren, sind sie auf Saatgut angewiesen, das sie von den Zitadellen beziehen. Das ist jedoch so manipuliert, dass es nur eine einzige Ernte produziert.
Im Austausch für dieses Saatgut bekommen die Bewohner der Zitadellen Blut von den Menschen draußen, um sich damit zu regenerieren. Ihre Verbindungsleute dabei sind zwielichtige Menschen wie Vespers Onkel Jonas, der Einzige, der hier ein Funkgerät besitzt – und einen Kühlschrank voller Blutkonserven. Familiärer Zusammenhalt ist ihm fremd, auch Vesper muss bei ihm mit Blut bezahlen, wenn sie ihn um Bakterien bittet. Sie experimentiert mit eigenen Züchtungen, um neue Nahrungsmittelquellen zu erschließen.
Hoffnung scheint auf, als Vesper im Wald eine junge Frau findet, eine Zitadellen-Bewohnerin, die hier bruchlandete. Camellia verfügt über Fähigkeiten, die die von Vesper ergänzen. Werden sie gemeinsam einen Ausweg aus der Misere finden?
»Vesper Chronicles« überzeugt trotz seines minimalistischen Settings. Der Film konzentriert sich auf die Verhaltensweisen seiner vier Figuren, bei denen sich nach und nach verschiedenste Geheimnisse enthüllen und immer wieder die Frage gestellt wird, wem man trauen kann. Jonas ganz offensichtlich nicht, er ist ein Machtmensch, der sich jovial gibt, seine Handlanger hat, aber auch vor eigenhändiger Gewaltausübung nicht zurückschreckt. Der Brite Eddie Marsan, bekannt geworden als Fahrlehrer in Mike Leighs »Happy Go Lucky«, liefert hier mit sparsamsten Mitteln eine weitere eindringliche Charakterstudie. Neben ihm vermögen sich die beiden jungen Darstellerinnen gut zu behaupten.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns