Kritik zu Utøya 22. Juli

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Kein Wunder, dass Erik Poppes ­Rekonstruktion des Blutbads von 2011 auf der Berlinale für Kontroversen sorgte: Das ­minutiöse Protokoll ist ebenso ­eindringlich wie formal fragwürdig

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Die Bilanz ist erschütternd. 77 ­Tote bei den Anschlägen in Oslo und Utøya am 22. Juli 2011, dazu Dutzende Schwerverletzte. 72 Minuten Treibjagd auf die 560 Teilnehmenden eines Feriencamps auf der kleinen Insel im Nordwesten der Hauptstadt. Mehrere hundert abgegebene Schüsse, 182 Körpertreffer. Am Ende ergibt sich der Täter den Sicherheitskräften, ohne Widerstand zu leisten. In Norwegen gilt die Tat als die schlimmste Katas­trophe seit dem Zweiten Weltkrieg.

Wie verfilmt man so ein Gemetzel? Wo liegt der Fokus? Auf den privaten Geschichten, in die das Böse blitzartig einschlägt – wie in Gus Van Sants »Elephant«, der 2003 das Columbine-Massaker aufarbeitete? Oder auf einer radikal reduzierten subjektiven ­Erfahrung – wie in László Nemes' markerschütterndem »Son of Saul« über die Nazi-Gräuel in Auschwitz? Regisseur Erik Poppe (»The King's Choice – Angriff auf Norwegen«) tendiert eher zu Letzterem, wenn auch weniger kunstvoll, geringer stilisiert. Sein »Utøya 22. Juli« bedient sich überraschenderweise eher beim Vokabular des Horrorkinos.

Zugleich hat sich Poppe drei strenge ­Prämissen auferlegt. Der Massenmörder ­Anders Behring Breivik wird weder namentlich erwähnt noch im Bild gezeigt (mal abgesehen von einer Silhouette, die einmal kurz in der Ferne auftaucht). Die Figuren des Films basieren nicht auf realen Personen, sondern sind Verdichtungen auf der Grundlage von Gesprächen, die mit Überlebenden geführt wurden. Und last not least: Die Ereignisse auf der Insel werden in 72 qualvollen Echtzeitminuten in einer einzigen Einstellung geschildert. Es geht also darum, die Situation der Opfer unmittelbar erfahrbar zu machen, ihre Überraschung, ihre Ahnungslosigkeit. Zugleich will Poppe nicht das Risiko eingehen, den Täter potenziellen Nachahmern auch nur ansatzweise »cool« erscheinen zu lassen. Breiviks Motive bleiben ebenso im Dunkeln wie sein Vorgehen; präsent ist er nur akustisch, im nervenaufreibenden Stakkato seines Dauerfeuers.

Der Film beginnt mit einem kurzen Vorspiel – dokumentarische Aufnahmen vom Bombenattentat im Zentrum von Oslo –, dann mit einem langen, leeren Blick in den Wald von Utøya. Eine junge Frau bleibt stehen und schaut direkt in die Kamera. »Du wirst das nie verstehen«, sagt sie. »Hör mir doch einfach zu.« Ein Metamoment, klar, Überschrift und Appell in einem. Doch Poppe bricht ihn gleich wieder – die Frau tele­foniert per Freisprechkabel mit ihrer Mutter. Den Dialog mit dem Publikum wird sie danach nicht mehr suchen, obwohl die Kamera ihr fortan nicht mehr von der Seite weicht. Wir begleiten Kaja (fulminant gespielt von der jungen Andrea Berntzen) ins Zeltlager, wo es ein Streitgespräch mit ihrer Schwester Emilie (Elli Rhiannon Müller Osbourne) und mit einigen anderen Jugendlichen eine Diskussion über die Explosion in Oslo gibt. Schon fallen irgendwo die ersten Schüsse, verzweifelte Teenager laufen um ihr Leben, und für Kaja beginnt die Dauerflucht vor den rechts und links einschlagenden Kugeln des Killers.

Es sind echte Gänsehautmomente, wenn den eben noch herumalbernden Feriencampern ihre Situation klar wird. Poppe hat es genau auf diesen Effekt abgesehen: auf das Spürbarmachen von Angst, Ohnmacht und Panik, auf die extrem eingeengte Perspektive, die dem realen Empfinden der Betroffenen vermutlich sehr nahe kommt. Die One-Shot-Inszenierung allerdings macht mit all ihrer grandiosen Logistik schon bald auf die eigene Künstlichkeit aufmerksam. Seltsamerweise imitiert die Kamera dabei immer wieder subjektive Perspektiven, die an Kriegsfilme erinnern, hier aber sinnlos wirken und letztlich nur die Spannung hochtreiben sollen. Kaja wird derweil zur letzten Horror-Heroine, die im Wald ihren Überlebenskampf führt. So schleicht sich nach und nach ein stilistischer Zynismus in den Film ein, der den eigenen Anspruch an Authentizität und Seriosität unterläuft.

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