Kritik zu Unzertrennlich
Rund vier Millionen Menschen in Deutschland haben einen Bruder oder eine Schwester mit einer chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheit. Frauke Lodders hat in ihrer Doku vier von ihnen beobachtet
Jedes Jahr zum Geburtstag treffen sich Familie und Freunde am Grab von Judith, die vor ein paar Jahren gestorben ist. Sie bringen etwas zu essen mit, zünden Kerzen an und singen Lieder, die sie mochte. Max, ihr Bruder, den der Film beobachtet, als er gerade seinen Beitrag zum Essen für diese Veranstaltung vorbereitet, mag das eigentlich gar nicht so. Aber er geht zusammen mit seiner Frau, seinem Kind und seinem Hund hin. Judith ist an einer Stoffwechselkrankheit gestorben, die zwangsläufig zum Tod führt, aber man merkt, wie sie als Person in dem jungen Mann weiterlebt. Er führt uns zu ihrem ehemaligen Kinderzimmer, das im Haus der Eltern erhalten ist, zeigt, wo die medizinische Technik stand, als es Judith anfing, schlechter zu gehen.
Vielleicht hat Max mittlerweile, Jahre nach dem Tod, ein abgeklärtes Verhältnis zu seiner Schwester. Frauke Lodders stellt in ihrem Dokumentarfilm vier Kinder vor, die damit konfrontiert sind oder waren, dass ihr Geschwister an einer lebensbedrohlichen oder chronischen Krankheit leidet. Jeder der vier geht damit anders um, doch für alle ist es ein Trauma, nicht nur die Bewältigung der Krankheit, sondern auch die Reaktion der Eltern darauf. Und die Reaktion der Eltern auf die Gesunden: den Verlust der Aufmerksamkeit, die Konzentration auf Bruder oder Schwester. Am konsequentesten bringt es Svea, um die 20, auf den Punkt, als sie sagt: »Wir sind Geschwisterkinder, aber wir stehen im Schatten.« Und sie erzählt von einem für sie einschneidenden Erlebnis, als es ihr durch eine schwere Grippe sehr schlecht ging, die Eltern aber in der Klinik beim krebskranken Bruder waren. Auch sie, so erzählen sie, wissen, dass sie da einen Fehler gemacht haben, was vielleicht auch das Verhältnis der Geschwister langfristig getrübt hat.
Die Mutter von Gustav erkennt auch die Belastung, die seine Schwester für ihn bedeutet, zu der noch die Trennung der Eltern hinzukam. »Da musste er halt mit leben«, sagt sie einmal. Eymens Schwester leidet an Trisomie 18, die zu inneren Organfehlbildungen führt. Eymen ist noch nicht alt genug, um über sich und seine Schwester zu reflektieren. Aber wir merken, wie er sich im Alltag um seine Schwester bemüht, die durchaus auch mal grob sein kann.
»Unzertrennlich« ist ein Dokumentarfilm, der, abgesehen von den Interviewpassagen natürlich, eher zurückhaltend beobachtet, der vielleicht keine neuen Erkenntnisse liefert, dessen Kamera aber unaufdringlich bei ihren Protagonisten bleibt. Und es gehört zu seinen Stärken, dass er nicht nur die Auseinandersetzung mit den Geschwistern einfängt, sondern sich auch für ihren Alltag und ihr Leben jenseits des Konflikts, für ihr Miteinander interessiert – gezeigt wird etwa, wie Gustav zur Konfirmation geht, wie er über Glauben spricht, wie Svea Handball spielt oder ein Metal-Konzert besucht. Max bricht mit seiner Familie zu einer Reise durch Europa auf, in einem Bus, den Freunde und seine Eltern bemalt haben, ein halbes Jahr wollen sie unterwegs sein. Aber das Bild seiner Schwester wird immer neben dem Rückspiegel hängen.
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