Kritik zu Toxic

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Das Debüt der litauischen Regisseurin Saule Bliuvaite ist eine schroffe Coming-of-Age-Geschichte in ­postsowjetischem Setting über zwei 13-jährige Freundinnen, die an eine dubiose Modelagentur geraten

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Seit 20 Jahren lockt Heidi Klum junge Frauen zu Castings und lässt die Auserwählten über die Catwalks bis ins Finale stöckeln. Aller feministischer Kritik und sich empörender Leitartikel zum Trotz erfreut sich »Germany's Next Top­model« andauernder Beliebtheit, vielleicht auch gerade weil das mediale Format wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat. Wo Heidis »Mädchen« in Los Angeles auf renommierte Designer und Starfotografen treffen, siedelt Saule Bliuvaite ihr Regiedebüt in einer namenlosen litauischen Stadt an. 

Die Umgebung ist postindustriell und von Verfall geprägt, viel zu tun oder zu erleben gibt es dort nicht. Für junge Mädchen ist die Modelschule daher eine verheißungsvolle Möglichkeit, der Tristesse zu entfliehen. Auch Marija (Vesta Matulyte) und Kristina (Ieva Rupeikaite) verfolgen diesen Traum und werden – trotz anfänglicher Rangeleien – bald beste Freundinnen. Marija ist neu in der Stadt, groß und schlank, aber aufgrund eines angeborenen Gehfehlers schüchtern. Kristina ist deutlich selbstbewusster, lebt bei ihrem Vater, der mehr Zeit mit seiner Liebhaberin als mit seiner Tochter verbringt. Gemeinsam versuchen sie, das Geld für die Kurse in der Modelschule zu berappen. Denn während die Schulleiterin kontinuierlich die Hoffnungen der Mädchen auf eine internationale Karriere nährt, lässt sie sich ihre Ratschläge, das erbarmungslose Vermessen der heranwachsenden Körper und die Fotoshootings üppig bezahlen. 

»Toxic« folgt den Freundinnen durch einen heißen Sommer voller dubioser Geldbeschaffungsmethoden, Streit mit Konkurrentinnen, gefährlicher Diäten und erster Sex- und Drogenerfahrungen. Bliuvaite, die auch das Drehbuch schrieb, bezieht sich dabei auch auf ihre eigene Jugend in Litauen. Die postsowjetische Ödnis, in der sie ihre Geschichte ansiedelt, hat visuell wie narrativ Charme. Bildgestalter Vytautas Katkus setzt die grauen Fassaden, die trostlosen Straßen und Landschaften voller Strommasten und verlassener Baustellen stimmungsvoll in Szene, als eine Art Territorium, das die Jugendlichen frei von der Aufsicht Erwachsener besetzen und erkunden. Stillleben von heimlich entsorgten Mahlzeiten senden mit wimmelndem Schimmel und krabbelnden Maden ebenso fiese Horrorvibes wie das explizit gefilmte Piercen einer Zunge. 

Dieser visuelle Look, das Setting und die sehr unterkühlte Erzählweise unterscheiden sich in ihrer Schroffheit bewusst von typischen Coming-of-Age-Filmen und brachte »Toxic« unter anderem drei Preise auf dem Festival in Locarno 2024 ein. Der distanzierte Blick, den Bliuvaite auf ihre Figuren richtet, ist aber nicht unproblematisch. Die knapp bekleideten Mädchen werden mehrfach in langen Einstellungen fast wie in Tableaux vivants exponiert. Das reproduziert eher den Blick auf Frauenkörper, als dass dieser male gaze kritisiert wird. Die Motive der Schulleiterin sind eigennützig, sie selbst bleibt aber zu blass, um eine wirkliche Gegenspielerin zu sein. Die Jungs, die Kristina und Marija mit Drogen und Alkohol gefügig machen wollen, sind gesichtslose, pubertierende Macker. Einige männliche Kumpel aus Kristinas Gang wirken, als sei ihr moralischer Kompass deutlich intakter als der der Mädchen. 

Wo etwa die frühen Filme Céline Sciammas ihren Protagonistinnen zugewandt bleiben und sie zu innerer Stärke heranwachsen lassen, vermeidet es »Toxic«, seinen Figuren zu nah zu kommen, was eine Identifikation mit ihnen erschwert. Das liegt nicht an den jungen Schauspielerinnen Vesta Matulyte und Ieva Rupeikaite, die diese beiden unterschiedlichen 13-Jährigen sehr gut verkörpern. Man wünscht sich aber, die Erzählung würde ihnen mehr Momente der Selbstermächtigung gönnen, statt sie distanziert und manchmal teilnahmslos dabei zu beobachten, wie sie Fehler begehen und sich selbst schaden. Auch wenn das Ende andeutet, dass sie am Ende des Sommers etwas mehr bei sich selbst angekommen sind.

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