Kritik zu Qissa – Der Geist ist ein einsamer Wanderer
Ein Mann erklärt seine neu geborene Tochter zum Sohn
Umber, Vater von drei Töchtern, beschließt bei der Geburt seines vierten Kindes per ordre de mufti, dass dieses ein Junge zu sein hat. Er zieht das Mädchen als seinen männlichen Nachfahr Kanwar groß. Als Teenager Kanwar die neckische Neeli, ein Mädchen aus niederer Kaste, in eine verfängliche Situation bringt, muss er/sie heiraten. Kanwars Travestie, die in der Hochzeitsnacht aufzufliegen droht, stellt aber nur den vordergründigen Konflikt dieses Dramas dar.
Regisseur Anup Singh umfährt sowohl die filmisch angesagte Genderthematik à la »Boys don't cry« wie auch jeden Anflug bunten Bollywood-Kinos. Stattdessen wird Kanwars vom Vater erzwungene Identitätslüge als Verschiebung der väterlichen Identitätskrise gedeutet. Von Anfang an ist der individuelle Konflikt vom Fluch eines unbewältigten Traumas geprägt. Zu Filmbeginn erfahren wir, dass der Sikh Umber 1947 im Bürgerkrieg nach der Teilung des Subkontinents mit seiner Familie aus Pakistan in den indischen Punjab flüchten musste. Nach diesem existenziellen Verlust will er mit aller Gewalt, wie sich spätestens nach Kanwars Hochzeit zeigt, die männliche Blutlinie fortsetzen. Als tragischer Zauberlehrling setzt sich Kanwar, der vom Vater gelernt hat, wie ein »richtiger Mann« aufzutreten, dagegen zur Wehr. Es folgen Tod, Verderben – und ein Geist, mit dem sich die Geschichte zum schicksalshaften Teufelskreis rundet.
Regisseur Anup Singh hat sich schon in »The Name of the River« (2002), dem Porträt des Filmemachers Ritwik Ghatak, mit dem Trauma der Teilung befasst. Zu seinem zweiten Film wurde er durch das Exiltrauma seines Großvaters inspiriert. »Qissa« bedeutet Fabel, und zumindest visuell gelingt es diesem metaphysisch gewirkten Drama, den Zuschauer in das übernatürliche Geschehen hineinzuziehen. Kameramann Sebastian Edschmid zeigt hypnotische Panoramen der Punjab-Ebenen, kontrastiert von dunkel monochrom gehaltenen, bröckelnden, wie Stillleben komponierten Innenräumen. Tillotama Shome wirkt mit Turban und männlicher Pose zugleich draufgängerisch und verletzlich. Irrfan Khan (»Lunchbox«) gelingt es, den Vater in all seiner Tyrannei und Paranoia auch als verlorene Seele zu porträtieren.
Doch hat diese Tyrannei ihren Grund in der Vergangenheit? Auch das Verhalten Kanwars, die mit Neelis Hilfe ihre »weibliche« Seite entdeckt, ist selbst jenseits von Genderüberlegungen wenig stimmig. Ist z.B. das Herumwedeln mit Tüchern tatsächlich in den fraulichen Genen angelegt, und wäre es nicht glaubhafter, dass Kanwar, als Mann erzogen, aus Überlebensgründen weiterhin die Maskerade vorzieht? Zumal der Film die Frauenverachtung dieser Gesellschaft herausstellt? Dies ist vielleicht zu westlich gedacht. Doch je mehr man versucht, die Lücken der elliptischen Handlung auszufüllen, desto stärker treten die Widersprüche zwischen metaphysischer Botschaft und konkretem Alltag hervor. So, wie Kanwars Umgebung wegschaut, als Singh sie zum Mädchen deklariert, so scheut auch der Film in seiner vergeistigten Kritik patriarchalischer Tradition den Blick ins Eingemachte.
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