Kritik zu Michel Petrucciani – Leben gegen die Zeit

© Polyband

2011
Original-Titel: 
Michel Petrucciani
Filmstart in Deutschland: 
08.12.2011
L: 
99 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Kleiner Mann, ganz groß: Michel Petrucciani, 1962 in Paris geboren und 1999 in New York gestorben, gilt als einer der größten Jazzpianisten. Michael Radford porträtiert ihn in seinem Dokumentarfilm als Lebemann und E nergiebündel

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In der Garage im Garten tanzen die Melodien um die Wette. Michel Petrucciani horcht auf, geht mühsam nach draußen und folgt dem Klang seines Vaters, der mit Freunden einen neuen Jazzsong zum Leben erweckt. Eigentlich müsste er an diesem Vormittag wie die anderen Jungen in seinem Alter in der Schule sitzen, doch Papa Tony hat es ihm verboten. Er soll lieber Klavier spielen. Zwölf Stunden am Tag. Mit großen Augen steht der kleine Michel in der Garage und lässt sich in den Bann der komplexen Rhythmen ziehen. Völlig beseelt wirft er die Hände in die Luft, verliert das Gleichgewicht und fällt mit dem Gesicht frontal auf den Fußboden. Blut strömt aus seiner gebrochenen Nase, der entsetzte Vater legt sofort die Gitarre aus der Hand und stürmt zu ihm. »Spielt weiter, spielt weiter!«, jubelt Petrucciani junior.

Die Szene ist nicht im Film zu sehen, doch wird sie so lebhaft vom Ausnahmepianisten erzählt, dass man viel mehr als nur eine Ahnung davon bekommt, wie Michel Petrucciani Zeit seines Lebens mit Schmerzen umzugehen pflegte: Er betäubte sie einfach mit Euphorie. Sein bestes Mittel gegen die angeborene Glasknochenkrankheit und den Kleinwuchs von knapp einem Meter waren weder Prothesen noch schützende Kissen an der Kleidung, sondern Frauen, Champagner, Kunst und Kokain – und sein Klavier natürlich. Vom ersten Auftrittsgeld in den USA kaufte sich der Franzose ein paar Cowboystiefel. Kurz darauf, mit gerade mal 19 Jahren, heiratete er zum ersten Mal. Seine erste Frau Erlinda Montano sieht man im Film an einem Hang im kalifornischen Big Sur sitzen. Sie verdreht die Augen und schwärmt: »Er war ein großartiger Liebhaber. Im Bett war er genauso gut wie am Klavier.«

Regisseur Michael Radford arbeitet mit Archivmaterial wie etwa dem Vatikan-Konzert für Johannes Paul II. In Interview-Sequenzen erinnern sich vertraute Wegbegleiter wie Roger Willemsen oder Musiker wie Tox Drohar, Charles Lloyd und Aldo Romano sowie die Exfrauen an das Energiebündel. Petrucciani wird hier nicht glorifiziert, sondern als hyperaktiver und humorvoller Lebemann gezeigt, der trotz (oder gerade wegen) seiner Behinderung nicht davor zurückschreckte, das Leben auf der Überholspur zu leben. Exzess, Rausch, Drama, Liebe: »Ich war ein richtiger Schwamm – und wollte alles aufsaugen«, erinnert sich Michel Petrucciani wenige Monate vor seinem Tod im Januar 1999.

Von den Schmerzen und den Hindernissen, die er während seines Lebens erlebt haben muss, erfahren die Zuschauer nichts. Radford vermeidet es, den kleinen, großen Mann als Opfer darzustellen und stürzt sich mit Begeisterung auf all den Überschwang und die bedingungslose Hingabe an die Musik, die es ihm erlaubte, sich mit den größten Jazzmusikern seiner Zeit zu messen, mit ihnen zu spielen und die Grenzen der Virtuosität zu sprengen. Auf dem Filmplakat sieht man Petrucciani am Klavier stehen, er hat Kopfhörer auf und wirft den Blick besorgt nach hinten. Als würde er auf die Uhr seines Lebens blicken und merken, dass ihm nicht viel Zeit bleibt. In seinen Knochen knackt es, doch der Klang des Klaviers ist stärker als der Tod.

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